Rezension


Was uns die Bibel lehrt
Biblische Standpunkte von Brüdergemeinden
Dillenburg (Christliche Verlagsgesellschaft) 2001
75 Seiten. ISBN 3-89436-297-9. € 4,90


In einer Zeit, in der auch Gemeinden, die sich selbst als „bibeltreu“ verstehen, den Gefahren des „Hinzufügens“ oder „Wegnehmens“ (5Mo 4,2; 13,1; Offb 22,18) zu erliegen drohen, ist es wichtig, sich immer wieder neu auf die zentralen, unaufgebbaren Glaubensgrundlagen der Heiligen Schrift zu besinnen. Das vorliegende Taschenbuch, von ungenannten Autoren vermutlich aus dem „Freien Brüderkreis“ verfasst, will dazu eine Hilfe bieten. Es stellt nach Art eines Glaubensbekenntnisses die wichtigsten Elemente der biblischen Lehre systematisch geordnet in knappen, prägnanten Sätzen zusammen: „Die Bibel“ (Autorität, Inspiration, Zuverlässigkeit, Umfang), „Gott“ (Vater, Sohn, Heiliger Geist), „Der Mensch“ (Bestimmung, Verantwortung, Fall), „Das Heil“ (Grundlage, Voraussetzung, Annahme, Zueignung, Auswirkungen), „Die Heilsgeschichte“ (fortschreitende Offenbarung, Mitte der Heilsgeschichte, Heilszeitalter, heilsgeschichtliche Schriftauslegung), „Die Gemeinde“ (lokale Gemeinde, Auftrag, Zugehörigkeit, Taufe, Mahl des Herrn, Absonderung, Einheit, Selbständigkeit, allgemeines Priestertum, Dienste) und „Die Wiederkunft des Herrn“ (für die Gemeinde, in Macht und Herrlichkeit, tausendjähriges Reich, Gericht, neuer Himmel und neue Erde).

Bei der Formulierung der Glaubenssätze ist durchweg das Bemühen um Ausgewogenheit zu erkennen; einseitige Sonderlehren, die sich nicht eindeutig aus der Schrift ableiten lassen, werden vermieden. So begnügt man sich beispielsweise mit der Einteilung der Heilsgeschichte in vier Zeitalter (statt der vom „klassischen Dispensationalismus“ angenommenen sieben), und auch diese Einteilung wird lediglich als „mögliche“ bezeichnet (S. 27). Zu jedem Glaubenssatz werden biblische Belegstellen angeführt, und zwar im vollen Wortlaut; dies hat zur Folge, dass die Bibelzitate insgesamt etwa 60 % des Buches ausmachen. Zur Veranschaulichung sei Abschnitt 1.2 über die Inspiration und Zuverlässigkeit der Bibel zitiert (S. 9f.):

Die Bibel ist nach ihrem Selbstzeugnis bis in den Wortlaut der Urschrift hinein das durch göttliche Inspiration empfangene wahre Wort Gottes und verlässliche Zeugnis von Gottes Offenbarung in der Geschichte. Wir halten an der völligen Zuverlässigkeit und sachlichen Richtigkeit aller biblischen Aussagen in ihrem heilsgeschichtlichen Zusammenhang fest.

[2Petr 1,19] Und so besitzen wir das prophetische Wort um so fester, und ihr tut gut, darauf zu achten als auf eine Lampe, die an einem dunklen Ort leuchtet, bis der Tag anbricht und der Morgenstern in euren Herzen aufgeht, [20] indem ihr dies zuerst wisst, dass keine Weissagung der Schrift aus eigener Deutung geschieht. [21] Denn niemals wurde eine Weissagung durch den Willen eines Menschen hervorgebracht, sondern von Gott her redeten Menschen, getrieben vom Heiligen Geist.

Da im Anhang des Buches (Näheres dazu unten) zweimal betont wird, dass die „bundesfreien“ ebenso wie die „bundesangehörigen“ Brüdergemeinden in Deutschland „die Grundsätze des Offenen Brüdertums vertreten“ (S. 71, ähnlich 73f.), ist man besonders gespannt, welche Haltung das Buch zu den neuralgischen Punkten „offene Zulassung“ und „gemeindliche Unabhängigkeit“ einnimmt. Wenn die Autoren „offene Grundsätze“ vertreten, wären sinngemäß etwa folgende Aussagen zu erwarten: Tatsächlich propagiert das Buch keinen dieser Grundsätze. Auf die Frage der Gastzulassung wird gar nicht eingegangen; der Abschnitt über die Teilnahme am Brotbrechen scheint nur die Heimatgemeinde im Blick zu haben (S. 43):
Die Teilnahme an der Mahlfeier beginnt in der Regel mit der verbindlichen Zugehörigkeit zur lokalen Gemeinde. [folgt Zitat Apg 2,41f.]

Unbußfertige Gläubige, die in der Sünde verharren oder an einer Irrlehre festhalten, sind vom Mahl des Herrn und der Gemeinschaft der Gläubigen ausgeschlossen. [folgt Zitat 1Kor 5,11–13; 2Jo 9–10]

Was die Beziehungen zwischen den Gemeinden betrifft, wird zwar die Selbständigkeit, jedoch nicht die Unabhängigkeit der Einzelgemeinde gelehrt. Ich zitiere einen längeren Abschnitt (S. 48–50):
6.8  Die Selbständigkeit der lokalen Gemeinde

Wir vertreten nach dem Zeugnis des Neuen Testaments die Selbständigkeit, nicht jedoch die Unabhängigkeit der lokalen Gemeinde, denn die Gemeinden sind durch die Wirkung des Heiligen Geistes miteinander verbunden. [folgt Zitat Eph 4,4]

6.8.1  Selbständigkeit

Eine selbständige Gemeinde ist in der Lage, ihre Angelegenheiten (z.B. Dienste, Finanzen, Zuchtmaßnahmen) unter der Führung ihrer Ältesten selbst zu regeln. Sie ist also keiner übergeordneten Instanz auf Erden unterstellt. [folgt Zitat 2Kor 1,24]

6.8.2  Verbundenheit

Eine selbständige Gemeinde steht aber mit anderen lokalen Gemeinden z.B. durch gemeinsame Konferenzen, Austausch- und Reisedienste in Verbindung und kann sich mit ihnen an gemeinsamen Werken missionarischer, pädagogischer oder sozialer Art beteiligen und auch gemeinsame Kassen für bestimmte Zwecke unterhalten. [folgt Zitat 3Jo 5f.; 1Kor 16,1]

6.8.3  Verantwortliche Einflussnahme

Weil alle Gemeinden zu dem einen Leib gehören, nehmen sie auch Verantwortung füreinander wahr. Das erfordert einerseits die gegenseitige Respektierung (z.B. bei Beschlüssen) und andererseits verantwortliche Unterstützung (z.B. in konkreter Fürbitte, in Besuchen, Dienstempfehlungen, Ratschlägen sowie Hilfen bei Fehlentscheidungen oder Fehlentwicklungen). [folgt Zitat Apg 11,22; 1Tim 1,3]

Gegen diese ausgewogene Darstellung biblischer Prinzipien ist nichts einzuwenden.

Den bereits erwähnten Anhang des Buches (S. 64–75) bildet ein Abriss zur Geschichte der deutschen Brüderbewegung, verfasst von dem als Kenner der Materie ausgewiesenen Gerhard Jordy. Dem Autor gelingt es, die wichtigsten Stationen der deutschen Brüdergeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart ohne ungebührliche Verkürzungen auf wenigen Seiten zusammenzufassen. Dabei ist er – wie bereits in seinem dreibändigen Standardwerk Die Brüderbewegung in Deutschland (Wuppertal 1979–86) – um größtmögliche Sachlichkeit und Objektivität bemüht: Auch wenn er selbst einer BEFG-Gemeinde angehört, versucht er doch allen Gruppen gerecht zu werden. Besonders deutlich zeigt sich dies im letzten Abschnitt, „Die Situation heute“, den ich in voller Länge zitieren möchte (S. 72–74; Links hinzugefügt):

Die heutige Gliederung des deutschen Brüdertums stellt sich also folgendermaßen dar:

1. Die Geschlossenen (Exklusiven) Brüder halten an der darbystischen Absonderungslehre fest, nach der es dem Christen aufgegeben ist, sich von allen konfessionellen „Systemen“ (Denominationen) fernzuhalten. Die Zugehörigkeit zu einem solchen „System“ bedeute Sünde, da hier der Mensch den Leib Christi willkürlich zerschneide und dem Gebot Jesu, die Einheit des Leibes zu wahren, zuwiderhandle. Die Einheit des Leibes Christi könne nur am Tisch des Herrn „dargestellt“ werden, und zwar nur von Christen, die keinerlei Verbindung mit konfessionellen Gruppen haben. Da die Geschlossenen Brüder für sich selbst den Namen einer konfessionellen Gruppierung ablehnen, nennen sie sich stets nur „Christen, die sich im Namen Jesu nach Matthäus 18,20 versammeln“.

2. In den letzten Jahren ist bei den Geschlossenen Brüdern allerdings eine Absetzbewegung eingetreten. Ca. 40 (z.Zt.!) Gemeinden wollen die rigorosen Absonderungsgrundsätze, die jedem nicht-exklusiven Christen die Tischgemeinschaft verweigern, nicht mehr vertreten. Sicherlich waren Wünsche nach mehr Offenheit und auch nach Lockerung traditioneller Strukturen schon länger latent vorhanden, den Anstoß zu Auseinandersetzungen und zur Trennung von den streng exklusiven Brüdern gaben aber Schriften und Vorträge des Professors Willem J. Ouweneel u.a. von den niederländischen Brüderversammlungen. Hier wurden Anregungen für eine neue (alte) Offenheit gegeben. Wie die Entwicklung in Zukunft verlaufen wird, ist heute noch nicht zu sagen. Auf alle Fälle sind in dieser Gruppe die Grundsätze der Anfänge des Brüdertums aufgegriffen worden, die Gemeinschaft mit allen Kindern Gottes zu suchen und eingefahrene Traditionen aufzugeben, die sich nicht mit dem Wort Gottes decken und keine Antwort mehr auf die Fragen von heute geben.

Von Bibel und Gemeinde her Antworten auf die Fragen der heutigen Zeit zu finden und zu geben, ist auch das Anliegen der beiden anderen Brüdergruppen:

3. Die bundesfreien (ehemals Geschlossene und Offene) Brüder vertreten grundsätzlich die Haltung des Offenen Brüdertums und haben daher Gemeinschaft mit den

4. Brüdern im BEFG (ehemals Geschlossene und Offene Brüder), die sich zur „Arbeitsgemeinschaft der Brüdergemeinden im BEFG“ zusammengeschlossen haben. Sie vertreten ebenfalls die Haltung des Offenen Brüdertums und halten gerade deshalb an der organisatorischen Verbindung mit den Baptisten im BEFG fest.

Auffallend an diesem „Gruppenbild“ ist besonders die Ausführlichkeit und Sympathie, mit der die zweite Gruppe beschrieben wird. Korrigierend anzumerken wäre jedoch, dass die meisten Gemeinden dieser Gruppe nicht dadurch entstanden sind, dass sie sich selbst von den Versammlungen der ersten Gruppe „abgesetzt“ oder getrennt haben, sondern dass ihnen von diesen Versammlungen die Gemeinschaft aufgekündigt wurde. Auch sonst findet sich in Jordys Ausführungen hier und da ein ungenaues oder missverständlich formuliertes Detail, so etwa wenn die Revision der Elberfelder Bibel auf das Jahr 1991 datiert wird (was insofern besonders verwunderlich ist, als Jordy selbst daran mitgearbeitet hat) oder wenn der Eindruck erweckt wird, als seien die Geistlichen Lieder inzwischen vollständig durch die Glaubenslieder ersetzt worden (beides S. 68). Solche Kleinigkeiten mindern den Wert des Aufsatzes jedoch kaum. Ergänzt wird er übrigens durch ein Schaubild (S. 75), auf dem die Geschichte der deutschen Brüderbewegung (die im Vergleich zur angelsächsischen ja relativ übersichtlich ist) in grafischer Form veranschaulicht wird.

Alles in allem handelt es sich hier um ein Buch, das trotz seiner Herkunft aus dem Kreis des „offenen“ Brüdertums einen guten Einblick in Lehre und Geschichte der gesamten deutschen Brüderbewegung bietet. Es ist daher sowohl zur „Selbstvergewisserung“ als auch zur Weitergabe an interessierte Außenstehende bestens geeignet.

Michael Schneider

[zuerst in: Mailingliste APOLLOS, 11. Mai 2001; leicht überarbeitet]


Links zu weiteren Rezensionen dieses Buches:
• Gerrit Alberts in fest und treu 3/2001

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