Interview mit René Schäfer

René Schäfer wurde 1963 in Heiden (Schweiz) geboren. Er studierte an der Bibelschule Beatenberg, der Akademie für christliche Führungskräfte und der University of South Africa (UNISA) Theologie. 2005 graduierte er an der UNISA zum Master of Theology (MTh). Er ist seit 1988 in Deutschland gemeindegründend tätig. Seit 1995 ist er deutschlandweit in der Beratung, Begleitung und Schulung von Gemeindegründungen unterwegs und seit 2004 Missionsleiter der Deutschen Inland-Mission.

Hier erläutert er einzelne Aspekte seiner Veröffentlichung „Biblisch orientierter Führungsaufbau – Wie Gemeindegründungen in Deutschland Führungsstrukturen entwickeln können“ (Jota Publikationen 2005), die auf seiner Masterarbeit aufbaut.


Einleitende Fragen

Frage: Ihre Publikation Biblisch orientierter Führungsaufbau liefert bezogen auf die Frage gemeindlicher Führungsstruktur erstens eine Analyse entsprechender Aussagen des Neuen Testaments und zweitens eine empirische Untersuchung aktueller Gemeindegründungsarbeiten der Brüdergemeinden in Deutschland (qualitative Auswertung von leitfadengestützten Interviews). Warum ist Ihnen dieses Thema so wichtig?

Schäfer: Ich habe in meinen Diensten in der Gemeindegründung beobachtet, dass die Leitung für den gesunden Aufbau einer Gemeinde eine wichtige Voraussetzung ist. Das Leitungsverständnis, die Leitungsfähigkeit sowie die Persönlichkeit des Leiters entscheiden wesentlich über das Leben und die missionarische Kraft einer Gemeinde mit. Da es Gottes Wille ist, dass sich die Gläubigen als Gemeinde zusammenfinden und dort die Stärkung und Belehrung für ihren Auftrag der missionarischen Arbeit erhalten, musste mich das Thema der Leitung zunehmend interessieren.

Frage: Können Sie uns in ein, zwei Sätzen erläutern, welche Aufgaben die Deutsche Inland-Mission (DIM), deren Missionsleiter Sie sind, wahrnimmt?

Schäfer: Die DIM ist ein reines Gemeindegründungswerk. Sie gründet Gemeinden in Deutschland, wo immer sie von Gott den Auftrag dazu bekommt, und ist bemüht, die Gemeinden neutestamentlich auszurichten. Das heißt, dass die Gemeinden ein ausgeglichenes Leben zwischen innerer Erbauung und dem missionarischen Auftrag leben.

Frage: Welche Beziehungen bestehen zwischen den verschiedenen Gruppen der Brüderbewegung in Deutschland und der DIM?

Schäfer: Die DIM hat seit ihrer Gründung immer wieder Brüder aus verschiedenen Brüdergemeinden an ihrer Spitze gehabt. Dadurch sind sicher zum einen Verbindungen gewachsen, die bis heute tragen. Und natürlich sind dadurch auch Grundprinzipien wie zum Beispiel die bedingungslose Akzeptanz der Autorität der Heiligen Schrift, die Liebe zur Verbreitung des Evangeliums und die Liebe zur Gemeinde Jesu tief verankert worden. Die Lehre der Brüderbewegung war in dem Werk prägend, ohne dass es sich auf einzelne Spitzfindigkeiten festgelegt hat.

Auch heute verbindet die Brüderbewegung und die DIM die dringende Notwendigkeit der missionarischen und gemeindegründenden Arbeit in Deutschland. Neutestamentlicher Gemeindebau ist auf beiden Seiten ein sich weiter verstärkendes Anliegen.


Die Leitlinien des Neuen Testaments

Frage: Verstehe ich Sie richtig: Sind Sie der Auffassung, die Benennung von Ältesten, also die Bildung von Leitungsstrukturen, entstand etwa um die Zeit von Apostelgeschichte 6, zunächst in Jerusalem, schleichend aufgrund der Notwendigkeit, die Apostel zu ersetzen? (S. 29)

Schäfer: Nicht ganz. Es ging vorerst nicht um ein Ersetzen, sondern zumindest zunächst nur um ein Ergänzen. Es ist der Beginn eines Aufbaus von Leitungsstruktur, der auf Grund der stark gewachsenen Gemeinde in Jerusalem dringend nötig war. Die Krise in Apostelgeschichte 6 ist ein Ausdruck von Leitungsschwäche. Diese Schwäche musste überwunden werden. Das geschah mit Männern, die in der Lage waren, andere zu führen. Dadurch entstand eine Leitungsstruktur – und zwar nicht aufgrund eines Modells, sondern aufgrund der Notwendigkeit.

Frage: Hochinteressant finde ich Ihre Feststellung, die ersten Gemeinden hätten (auch wenn die Bezeichnung „Ältester“ für Leiter keine Neuschöpfung sei, sondern ihren Ursprung im Alten Testament habe) nicht die Leitungsstrukturen aus dem Judentum übernommen. Sie sprechen zugespitzt von dem „Gegensatz zwischen leiten durch fordern und leiten durch geben“ (S. 21, auch 30f.). Könnten Sie die Unterschiede zwischen der jüdischen Tradition und der „Neudefinition“ der ersten christlichen Gemeinden ein wenig näher erläutern?

Schäfer: Der oder die Synagogenvorsteher hatten in erster Linie für einen geordneten und reibungslosen Ablauf der Gottesdienste zu sorgen. Sie verbreiteten und hüteten das Gesetz durch diesen geordneten Ablauf des Synagogengottesdienstes. Man könnte sagen, sie waren so eine Art Beamte oder Verwalter des Gesetzes. Damit wurde die Leitung der Synagoge zu Forderern des Gesetzes.

Jesu Lehre einer dienenden Haltung bei der Leitung, z.B. bei der Fußwaschung oder bei der Auseinandersetzung der Jünger, wer der Größte sei, lässt sich nicht mit einem Vorsteherdienst in einer Synagoge in Einklang bringen. An dieser Stelle ist von Leitern und somit auch von der Leitungsstruktur der neutestamentlichen Gemeinde viel mehr verlangt als Verwaltung. Es ist ein Priesterdienst des Glaubens, durch den Leiter die Einzelnen in der Gemeinde in die Gegenwart Gottes führen. Die Leiter der Gemeinde sind nicht Verwalter einer festen Struktur, sondern führen andere Menschen in die Beziehung zu Gott. Und das tun sie nicht durch eine hohe Position, sondern durch die Selbstaufgabe nach dem Vorbild Jesu, wie das zum Beispiel in Matthäus 16 mit der Aussage verdeutlicht wird, dass jeder sein Kreuz zu tragen hat.

Frage: In Neugründungen, schreiben Sie, hatte Paulus zunächst „keine eindeutigen Vorstellungen von der Leitungsstruktur für Gemeinden“ (S. 30). Das Fehlen eines klar definierten Gemeindegründungsmodells bei Paulus sei, so führen Sie aus, „nicht Planlosigkeit, sondern Konzept“ (S. 96). Paulus setzte nicht Männer ein, die „eine spezielle, festgefügte Struktur von Gemeindebau verwirklichen, sondern solche, die einen Lebenswandel mit Christus führen“ (S. 97). Entscheidet letztlich, wie auch Ihre dritte These (S. 157) andeutet, die Herzenshaltung prägender Personen unabhängig von der strukturellen Verankerung?

Schäfer: Ja. Es muss eine dienende Herzenshaltung sein. Es muss eine Haltung sein, die die Gaben und die Persönlichkeit der Einzelnen stärkt und entfaltet. Wenn diese Grundhaltung in der Leitung vorhanden ist, ist die Struktur sekundär.

Frage: Ist eine auf Dauer angelegte Struktur denn nicht auch in gewisser Weise eine Loslösung von zu enger Koppelung an Gründungspersönlichkeiten? Sonst steht und fällt doch alles mit deren Bewusstsein, Charakter und Werten.

Schäfer: Wenn der Gemeindegründer ein dienender Leiter ist und Gaben von anderen entfaltet, so wird er Menschen ja gerade nicht an sich binden, sondern in die Freiheit des Dienstes führen. Er wird die nächste Generation von Leitern in eine gleiche dienende Haltung führen und damit eine Struktur der dienenden Haltung erzeugen. Eine Struktur, die durchaus tragfähig ist, aber an Personen und nicht an sachliche Richtigkeit gebunden ist.

Frage: Paulus verstand, so betonen Sie, die „Bildung einer Leitungsstruktur als Mittel zum Zweck und nicht als Inhalt und Ziel“ (S. 32). Das heißt: Älteste hat man nicht, um Älteste zu haben, sondern um eines Zieles willen. Was ist denn dann, auf den Punkt gebracht, der Zweck einer Leitungsstruktur?

Schäfer: Die Zurüstung der Gemeinde zu ihrem Auftrag. Die Mündigkeit jedes Einzelnen in der Gemeinde in der Beurteilung von Gut und Böse in allen Handlungen und Gedanken ist die eigentliche Aufgabe der Leiter. Sie führen andere Menschen in die Gegenwart Gottes. Sie führen die Menschen dahin, dass diese sich von Gott leiten lassen.

Frage: Sie verwenden häufig die Formulierung „transzendente Leitungsstruktur“; Sie betonen: „Sind Leiter von Gott befähigt, so kennen sie ihre Abhängigkeit und führen andere Menschen in dieselbe Abhängigkeit hinein“ (S. 35, auch 77). Als Außenstehender könnte man sich fragen: Sind Gemeinden nicht in gewisser Weise durchaus auf ihre Leiter angewiesen? Was genau möchten Sie mit dem Begriff „transzendenter Leitungsstruktur“ ausdrücken?

Schäfer: Mit dem Begriff „transzendente Leitungsstruktur“ verweise ich auf die Aussage von Epheser 4,15.16, in der Paulus deutlich macht, dass Christus das Haupt der Gemeinde ist. Er ist nicht sichtbar, und dennoch leitet er uns, und zwar jeden. Die Leiter sind nicht die Stellvertreter Christi auf Erden. Angewiesen ist die Gemeinde auf die Leiter nur insofern, als diese den Weg in die Abhängigkeit von Gott zu zeigen haben. Gemeinsam haben sie die Leitung durch den Heiligen Geist. Gemeinsam werden sie von einem Gott geführt. Gemeinsam sollen sie zur Reife und zur Mündigkeit gelangen.

Frage: Sie schreiben zugespitzt, wenn „ein geistlicher Leiter tatsächlich das Werkzeug des Heiligen Geistes“ sei, werde seine Stellung „auf einen Erfüllungsgehilfen Gottes herabgesetzt. Er hat weder eine eigene Erfindung, noch ein eigenes Reich oder einen eigenen Gedanken, den er in seine Führungsarbeit einbringen könnte. Er hat nur das, was ihm Gott als Botschaft, als Werk und als Kraft gegeben hat“ (S. 73). Wie können Leiter denn unterscheiden, ob ihre Pläne, Ziele, Visionen von Gott gewirkt sind oder ob sie doch nur „auf ihrem eigenen Mist gewachsen“ sind, also nicht von Gott geprägt sind?

Schäfer: Wenn Leiter eigene Pläne, Ziele und Visionen verfolgen und diese dann der Gemeinde als den Willen Gottes anpreisen, werden sie ihrer Leitungsaufgabe nicht gerecht. Wenn sie den Willen Gottes erkennen, werden sie den Willen Gottes mit der Gemeinde zusammen suchen, werden die Gemeinde lehren, wie sie den Willen Gottes erkennen können, und werden so die Gemeinde in die Mündigkeit und in die Abhängigkeit vor Gott führen. Tun sie das, so werden sie schnell merken, ob ihre Sicht vom Willen Gottes auch von der Gemeinde erkannt wird oder nicht. Tun sie es nicht, so herrschen sie über die Gemeinde und haben tatsächlich kein wirkliches Gegenüber, mit dem sie ihre Vision beurteilen können.

Frage: Und wie kann eine Gemeinde die Pläne ihrer Leiter geistlich beurteilen? Immerhin fordert die Bibel die Gemeinde zur Unterordnung unter die Ältesten auf.

Schäfer: Die Unterordnung der Gemeinde unter die Leiter bezieht sich nicht so sehr auf irgendwelche Umsetzung von Zielen und Plänen oder Visionen, sondern vielmehr auf die persönliche Korrektur in der Jüngerschaft, in der Hilfestellung zur Mündigkeit und im Unterscheiden von Gut und Böse. Die Unterordnung ist eine Lernbereitschaft zum Gott wohlgefälligen Leben und nicht ein Gehorsam in der Umsetzung von Visionen.

Frage: Sie schreiben weiter: „damit Leiterschaft geistliche Leiterschaft werden kann, muss menschliches Vermögen in der Leiterschaft in den Hintergrund treten. In geistlicher Leiterschaft soll nicht die Stärke des Leiters und auch nicht das Projekt, zu dem hingeführt werden soll, im Vordergrund stehen, sondern die persönliche Beziehung zum lebendigen Gott“ (S. 76f.). „Wenn Gott starke Menschen berufen hat, so sind diese oft durch die Schule Gottes in die Schwachheit geführt worden [...] Denn der Starke steht mit seiner Kraft Gott oft im Weg“ (S. 38). Aber hat Gott nicht auch manche Menschen stark z.B. in der Leitung, im Vorbild gemacht, damit sie ihre Stärke für ihn einsetzen können? Entscheidend ist doch eigentlich die Haltung: Fühle ich mich „unabhängig“ stark und groß, oder sehe ich meine Gaben als Geschenk und Verpflichtung in der Abhängigkeit von Gott?

Schäfer: Der Kern ist dieser: Die menschliche Stärke im Dienst wird im Reich Gottes immer wieder im Wege stehen. Das bedeutet aber nicht, dass der Leiter keine Stärken haben darf. Wesentlich ist, dass diese Stärke aus der Kraft Gottes heraus kommt und nicht aus dem menschlichen Vermögen. Jesus sagt: „Wenn das Samenkorn nicht stirbt, bringt es keine Frucht. Wenn es stirbt, bringt es viel Frucht.“ Wenn der Leiter nicht von seiner eigenen Kraft stirbt, wird er nicht leiten können. Er wird seinem Ehrgeiz, seinen Zielsetzungen, seinem Erfolgsdenken und vielen anderen Dingen sterben müssen. Er wird aus einer gottesfürchtigen Gelassenheit heraus arbeiten müssen, wird mit Geduld ertragen müssen, um Gott den Raum zum Wirken zu geben. Und darin wird er stark sein! Im Tragen, im Fördern, in der Geduld, in der Wiederholung, in der Belehrung, in der Güte usw. wird er stark sein!

Frage: Sie halten fest (S. 37): „Wesentlichste Voraussetzung des Dienstes als Ältester ist, dass diejenigen, die ihn anstreben, einen solchen Dienst in Ansätzen schon tun. Sie bewähren sich erst in ihrem Leben und werden anschließend berufen, um ihn in der entsprechenden Legitimation zu tun“. Wie entscheidend ist denn bei Personen, die ihre Leitungsgabe bereits einbringen, noch die öffentliche Benennung (ohne die Ihrer Auffassung nach „keiner wirklich Ältester ist“, S. 63)? Welchen Mehrwert hat die „Berufung“, die „Legitimation“, was ändert sich dadurch noch? Die Autorität? Das Aufgabenspektrum? Die Rolle? Die Transparenz?

Schäfer: Es ändert sich in der Tat nicht sehr viel. Und dennoch bleibt ohne Einsetzung eine Lücke, nämlich die der Identität als Leiter und der Identität zum Leiter von Seiten der Gemeinde. Vor der Einsetzung wird er seinen Dienst tun und ihn vor Gott verantworten. Nach der Einsetzung wird er ihn auch vor der Gemeinde verantworten. Die Gemeinde wird nach der Einsetzung wissen, an wen sie sich wenden soll. Sie hat sich vor der Einsetzung vielleicht aus Vertrauen an ihn gewandt. Nach der Einsetzung wird sie es nicht nur aus dem Vertrauen, sondern auch in der Erwartung der Hilfestellung tun.

Frage: Die Anforderungslisten für Älteste (1. Timotheus 3 / Titus 1) definieren Sie als „Beschreibung eines von Gott veränderten und bestimmten Charakters“ (S. 39). Handelt es sich dabei um Idealkriterien oder um Mindeststandards?

Schäfer: Aus beiden Stellen geht klar hervor, dass es sich um eine Mindestanforderung handelt. Die Tatsache, dass die Männer auf Kreta diese Anforderungen nicht erfüllten, veranlasste Paulus ja, Titus zurückzulassen. Wären es nur Idealkriterien gewesen, hätte er Titus nicht zurückzulassen brauchen, sondern nur Hinweise geben müssen, was in Zukunft von den Brüdern, die den Ältestendienst tun, angestrebt werden soll.


Die empirische Untersuchung

Frage: Sie haben nicht nur die Aussagen der Bibel untersucht, sondern auch Gemeinden, die dem „Freien Brüderkreis“ nahestehen oder zum BEFG gehören, empirisch analysiert. Provokant gefragt: Warum reichen Ihnen die Handlungsanweisungen der Bibel nicht aus, welchen Zusatznutzen versprechen Sie sich von empirischen Befragungen der immer fehlerhaften Praxis?

Schäfer: Die empirische Untersuchung ist als Abgleich der heutigen Praxis mit der biblischen Vorgabe zu verstehen. Es geht nicht um einen zusätzlichen Nutzen aus den Erfahrungswerten der Praxis, sondern um eine Analyse der Praxis. Die biblische Aussage sagt noch nichts aus über die heutige Ansichtsweise in den Gemeinden. Die empirische Untersuchung hat eindrücklich nachgewiesen, dass die Praxis in den Brüdergemeinden an einigen Stellen weder biblisch noch erfolgreich ist. Meiner Ansicht nach ist sie gerade deshalb nicht erfolgreich, weil sie nicht biblisch ist! Das Ziel der empirischen Untersuchung war ja, genau festzustellen, wie Brüdergemeinden mit dieser Thematik umgehen.

Frage: Ihre Feststellung klingt nicht gerade ermutigend, die Entwicklung von Leitungsstrukturen sei „schwierig, aber nicht unmöglich“ (S. 130). Sie schildern anschaulich, dass beim Aufbau von Leitungsstrukturen oft Streit entsteht (S. 120ff.). Richtet man vielleicht mit dem Aufbau von klaren Leitungsstrukturen oft mehr Schaden als Nutzen an?

Schäfer: Wenn das nur kurzfristig gesehen wird, vielleicht. Aber prinzipiell nein! Die von Ihnen angesprochene Aussage bezieht sich auf Gemeindegründungsarbeiten, die in Bezug auf Leitung völlig ziellos gearbeitet haben. Irgendwann bleiben sie stecken und müssen dann anfangen, über Leitung nachzudenken. Aus dieser Situation heraus ist der Aufbau von Leitungsstruktur wirklich schwierig, denn es gibt viele Gewohnheiten und viele Empfindlichkeiten, die erst überwunden werden müssen. Doch wenn sie nicht überwunden werden, so bedeutet dies den Untergang der Gemeindegründung. Also wird man die Schwierigkeiten in Kauf nehmen müssen, um eine langfristige Perspektive für die Gemeinde zu haben.

Frage: Sie fassen Ihre empirischen Befunde u.a. mit dem Ergebnis zusammen, entscheidend sei ein „integratives Leitungsverständnis“ der Leiter (S. 147). Was verstehen Sie darunter?

Schäfer: Integratives Leiten bedeutet ein Integrieren der Menschen in das Reich Gottes. Im Gegensatz zu einem autoritativen Leiten, in dem der Leiter die Verantwortung für den Geleiteten übernimmt, sucht das integrative Leiten, den anderen in die Selbständigkeit vor Gott zu führen. Damit ist der andere ein vollwertiges Mitglied im Reich Gottes, er ist voll integriert im Reich Gottes.

Frage: Sie haben die Untersuchung, wie Sie eben betonten, gestartet, um die Praxis zu überprüfen (S. 112). Haben die Ergebnisse Ihrer Studie denn nun bei Ihnen zu einer Bestätigung oder Veränderung Ihrer Praxis geführt?

Schäfer: Sie haben durchaus zu Veränderungen geführt. Ich mache unseren Gemeindegründern deutlich, dass sie viel früher mit Leiterschaftsschulung anfangen sollten und dass integrative Leitung von Anfang an eintrainiert werden muss. Wir können in einer Gemeindegründung nicht einen Missionar vollzeitlich leiten und alles in seiner Hand lassen, wenn nach der Gemeindegründung eine ehrenamtliche, integrative Leitung stattfinden soll. Die Gemeinde ist bis dahin nicht auf eine selbständige, ehrenamtliche Leitung vorbereitet worden. Diese Erkenntnis wird die Vorgehensweise unseres Missionswerkes nachhaltig verändern. In den Gemeindegründungsarbeiten wird von Anfang an eine Selbst-Leitung eingeführt, in der der Missionar nur eine Schulungsaufgabe wahrnimmt. Er wird die Leiter in ihrer Persönlichkeit und ihren Begabungen entfalten und zu eigenständigen und kompetenten Leitern heranbilden. Auf diese Art und Weise wird integrative Leitung von Anfang an gepflanzt.


Umsetzungsfragen

Frage: Verstehen Sie Titus 1,5 so, dass das Fehlen von Ältesten heute in Gemeinden ein Versäumnis ist (S. 32)? Braucht jede Gemeinde benannte Älteste?

Schäfer: Ja. Die Brüdergemeinden haben sich lange Zeit aus den verschiedensten Gründen gegen Ältestenschaft in der Gemeinde gewehrt. Aber sie haben übersehen, dass Ältestenschaft eben nicht nur eine strukturelle, sondern insbesondere eine inhaltliche Funktion hat. Die Brüdergemeinden haben sich gegen die Strukturen gewehrt und haben gleichzeitig den Inhalt verworfen. Damit haben sie nach dem Sprichwort „das Kind mit dem Bad ausschütten“ gehandelt. In der Vergangenheit sind immer Leitungsaufgaben in den Brüdergemeinden wahrgenommen worden. Aber dadurch, dass die Brüder nicht benannte Älteste waren, konnten sie weder korrigiert noch zur Rechenschaft gezogen werden. In manchen Fällen wurde dadurch Missbrauch betrieben. Mit der Einsetzung einer Ältestenschaft mit einem integrativen Leitungsverständnis entsteht weniger Klerus als mit selbsternannten Patriarchen.

Titus 1,5 macht übrigens deutlich, dass nicht nur die Apostel in der Lage waren, Älteste einzusetzen, sondern eben auch Titus beauftragt wurde. Das führt zu einer inhaltlichen (nicht formellen) Ältesten-Sukzession.

Frage: Die Bibel lässt uns, schreiben Sie, „eine gewisse Freiheit im Hergang der Einsetzung“ von Ältesten, da es nur „wenig Anhaltspunkte zum direkten Akt der Einsetzung“ gibt (S. 58). Heißt das, verschiedene Wege führen zum Ziel? Oder präferieren Sie einen bestimmten Ansatz für eine Ältestenberufung?

Schäfer: Ich rede im Zusammenhang mit der Einsetzung von einer vierfachen Einheit. Zum einen muss der Geist Gottes bestätigt haben, dass er den Leiter in dieser Funktion dienen lassen will. Dies tut er mit der Begabung der Lehre und der Leitung. Als Zweites wird der Betreffende mit diesem Dienst einverstanden sein müssen. Er wird sich vom Geist Gottes korrigieren lassen müssen und wird sich Zeit und Kraft herausnehmen, um seine Gaben in der Gemeinde einzusetzen. Das ist der Akzent der Bewährung. In der Gemeindegründung wird dann auch der Gemeindegründer eine Rolle spielen. Er hat die Aufgabe, neue Leiter zu suchen und zu fördern. Er wird also auch beurteilen und sehen, wie weit die Bewährung und die Entfaltung der Gaben fortgeschritten ist. Als Letztes wird sich auch die Gemeinde mit dieser Berufung verbinden müssen, indem sie diejenigen anerkennt, die unter ihnen dienen (1. Timotheus 5).

Wenn diese vier Beteiligten in einer sorgfältigen und sich gegenseitig achtenden Weise einig werden, wird diese Einmütigkeit ein großer Segen für die Gemeinde sein. Einheit ist die oberste Priorität.

Frage: Noch einen Schritt zurück: Wer sollte Ihrer Meinung nach die Entscheidung treffen, dass überhaupt Älteste benannt werden sollten? Wie sollte diese Entscheidungsfindung in Gemeinden, die bislang keine Ältesten haben, vonstatten gehen? Das Problem ist doch, dass der Impuls, Älteste zu berufen, wohl immer genau von potentiellen Ältestenkandidaten kommen wird. Wie kann man damit umgehen? Ist das verdächtig, anrüchig oder unvermeidbar?

Schäfer: In der Gemeindegründung spielt der Gemeindegründer in der Einsetzung von Ältesten eine wichtige Rolle. Es ist seine Aufgabe, die Gemeinde zur Selbständigkeit zu führen, und das bedeutet eben auch, in eine eigenständige Leiterschaft. Somit wird er mit zukünftigen Leitern arbeiten, wird sie in den Dienst führen, sodass sie von der Gemeinde gesehen werden können.

In einer bestehenden Gemeinde, die über Jahre und Jahrzehnte hinweg keine Ältesten hatte, ist in diesem Fall eine Vertrauensperson, die den Einsetzungsprozess in ähnlicher Weise wie ein Gemeindegründer begleitet, vonnöten. Bei den Brüdergemeinden gibt es immer noch die Einrichtung der „Reisebrüder“. Diese Brüder genießen oft ein hohes Vertrauen in den Gemeinden und sind deshalb für einen solchen Dienst prädestiniert.

Noch ein Wort zum Einsetzungsprozess: Die erste Priorität im Einsetzungsprozess muss eine Einmütigkeit in der Einsetzung sein. Die zweite Priorität ist ein gut zusammengestelltes Team, das sich in den Gaben und den Persönlichkeiten gut ergänzt. Um diese beiden Prioritäten zu erreichen, ist der beste Vorgang:

  1. die Gemeinde über den Leitungsstil und die Voraussetzung für Ältestenschaft unterrichten,
  2. die Gemeinde und den Gemeindegründer (oder Reisebruder) unabhängig voneinander und anonym die Brüder benennen lassen, die in ihren Augen einen Ältestendienst tun könnten,
  3. der Gemeindegründer (oder Reisebruder) spricht mit allen Genannten und prüft sie auf ihren eigenen Willen zum Dienen, ihre Bewährung im Glaubensleben, ihren bisherigen Dienst in der Gemeinde und die Teamwilligkeit und -fähigkeit bezogen auf die Zusammenarbeit mit den anderen benannten Brüdern. Dadurch entsteht ein Selektionsverfahren, und es kann vom Gemeindegründer (oder Reisebruder) ein Team zusammengestellt werden.
  4. Das Team wird der Gemeinde vorgestellt und ein offenes Gespräch über und mit den möglichen Ältesten geführt. Sind sich der Gemeindegründer (Reisebruder) und die Gemeinde einig, erfolgt eine Einsetzung.

Frage: Sie haben Ihre Untersuchung auf Gemeindegründungen konzentriert. Empfehlen Sie einer vorhandenen Gemeinde, die Leitungsstrukturen installieren will, ein anderes Vorgehen als einer Gemeindegründung?

Schäfer: Diese Frage kann ich nicht pauschal beantworten. Es gibt Situationen, in denen alte Gemeinden einer Gemeindegründung ähnlich sind und in der das gleiche Vorgehen praktiziert werden kann. Es gibt aber auch Situationen, in denen die Geschichte der Gemeinde, die Verwandtschaft innerhalb der Gemeinde oder Traditionen eine so große Rolle spielen, dass man individuell überlegen muss, wie eine Einsetzung erfolgen kann.

Ich muss an dieser Stelle erwähnen, dass eine Gemeinde auch eine gewisse Reife haben muss, um eine integrative Leitung leben zu können. Wenn eine Gemeinde erwartet, dass Älteste alles zum Besten wenden und sie dabei nichts tun müssen, so wird eine Ältestenschaft nur verschleißen. Nicht nur die Leiter müssen verstehen, was Leitung ist, sondern auch die Geleiteten müssen verstehen, wie sie geleitet werden sollen.

Frage: Sie schreiben, „an keiner Stelle des Neuen Testaments wird von einer beschränkten Dienstzeit [...] eines Ältesten gesprochen“ (S. 63). Ist ein Ältester lebenslang Ältester von seiner Gabe her? Oder sollte er Ihrer Auffassung nach in seiner Gemeinde ohne Befristung berufen werden?

Schäfer: Von der biblischen Seite her gibt es keinen befristeten Dienst in der Leitung. Befristungen entstehen natürlicher- und menschlicherweise. Natürlicherweise heißt, dass jeder Mensch ein Alter erreichen kann, in dem er einen Leitungsdienst nicht mehr wahrnehmen kann. Ein solches Alter ist aber nicht an eine Jahreszahl gebunden. Um der Person und ihrem Dienst gerecht zu werden, muss eine offene Kommunikation hergestellt werden, damit dem Bruder zur rechten Zeit deutlich gemacht werden kann, wann er aufhören soll. Eine Begrenzung menschlicherweise bezieht sich auf Schuld des Ältesten. Hier gibt Paulus eine klare Regelung in 1. Timotheus 5,19.20. Wenn Älteste sündigen, werden sie auf zwei oder drei Zeugen hin vor der Gemeinde zurechtgewiesen und unter Umständen aus dem Dienst genommen.


Leitungsstrukturen speziell in Brüdergemeinden

Frage: In Brüdergemeinden dominiert weitgehend die Auffassung, man müsse klar zwischen Amt und Gabe trennen; Rudolf Brockhaus stellt das z.B. im vierten Kapitel („Älteste und Diener“) von Die Versammlung des lebendigen Gottes (1912) ausführlich dar. Damit verfolgen Brüdergemeinden Ihrer Einschätzung zufolge seit jeher das „Ziel, Strukturen zu vermeiden, aber den Leitungsdienst trotzdem auszuüben“ (S. 104). „Angst vor Strukturen“ (S. 112) führte zu einer Grundhaltung, „den Dienst eines Ältesten bei einer Begabung zwar zu tun, aber nicht zu benennen“ (S. 105). Mit dem Tod der Apostel und ihrer Bevollmächtigten, so die klassische Auffassung der „Brüder“, habe niemand mehr die Vollmacht, Älteste zu benennen. Was entgegnen Sie diesem Argument?

Schäfer: Die Angst vor den Strukturen baut letztlich auf die Angst vor Autorität. Die Brüderbewegung muss erkennen, dass auch ihre Entstehungsgeschichte nicht frei von situativen Einflüssen ist. Die „Brüder“ haben sich zu Recht gegen die Trennung von Klerus und Laien gewehrt. Aber wie so oft in solchen Situationen leidet die Wahrheit. Es geht ja um die Frage, ob es eine apostolische Sukzession gibt, also ein Weiterleiten der Autorität der Apostel, andere Apostel oder Älteste einsetzen zu können. Aber das ist die falsche Fragestellung. Sie setzt voraus, dass die Apostel tatsächlich ein Amt innehatten und dieses strukturell hätten festigen müssen. Aber die Apostel verstanden ihren Dienst nie als Amt. Sie waren Knechte, sie waren Diener und sie verstanden ihre Tätigkeit als Dienst und nicht als Amt. Deshalb kann auch ein Barnabas oder ein Titus im Neuen Testament als Apostel genannt werden, obschon sie nicht zu den 12 oder zu den 13, wenn man Paulus einschließt, gehörten. Sie waren Apostel nach dem Dienst und nicht nach dem Amt. Das ist auch bei den Ältesten so. Ihre Tätigkeit führte zu ihrer Stellung, aber diese Stellung wurde als solche auch benannt. Barnabas tat einen Dienst als Apostel, ausgesandt und als solcher bestätigt von der Gemeinde in Antiochien, und wurde Apostel genannt. In 1. Thessalonicher 5 wird das gleiche Muster für Älteste aufgezeigt. Diejenigen, die in einer Gemeinde dienen, sollen erkannt oder anerkannt werden. Demnach geschieht eine Berufung nicht durch eine Sukzession, sondern durch den Dienst und die Bestätigung des Dienstes.

Frage: Sie halten m.E. zu Recht fest, dass Strukturlosigkeit in Gemeinden entweder zu Leitungslosigkeit führt oder dazu, dass sich „unstrukturierte und unerwünschte Machtergreifungen“ (S. 131) etablieren. Sie führen Beispiele an, wo trotz Ablehnung formaler Leitungsstruktur informell klare Leitungsstrukturen erkennbar sind (S. 113). Kann es sein, dass gerade „heimliche Leiter“ transparente Strukturen verhindern wollen? Und: kann es sein, dass in informellen Strukturen die Missbrauchsgefahr (Leitung wird z.B. durch Beziehungen, Geld oder Macht bestimmt, nicht durch geistliche Qualitäten) größer ist als bei transparenten?

Schäfer: Ja, die Gefahr des Machtmissbrauchs ist in einer informellen Leitungsstruktur recht groß. Das liegt an der mangelnden Möglichkeit dieser Struktur, ein Korrektiv einzubauen. Sobald ein Missbrauch vorliegt, kann er nicht mehr korrigiert werden, denn es sind keine Abläufe dafür vorgesehen. Wenn die Leiter geistlich gesinnt sind, so ist eine informelle Leitungsstruktur sicherlich kein Problem. Aber auch Brüder sind nur Menschen, und wie die Erfahrung zeigt, allzu oft. Ob eine Missbrauchsgefahr bei informeller Leitung oder klarer Leitungsstruktur stärker ist, würde ich nicht bewerten. Sie ist in beiden Systemen vorhanden. Viel wichtiger ist die Möglichkeit, Missbrauch zu korrigieren. Und das ist in der informellen Struktur so gut wie nicht möglich.

Frage: Worin sehen Sie die Nachteile der vielfach praktizierten „Brüderstunde“ (also eines Entscheidungsgremiums auf lokaler Ebene, dessen Mitglieder nicht gewählt werden, sondern stillschweigend als Älteste anerkannt werden)?

Schäfer: Zum einen ist es die bereits angesprochene Frage der Korrektur. Die Bibel geht in 1. Timotheus 5 recht krass gegen Älteste vor, die gesündigt haben. Wenn das aber Männer sind, die sich mit der Argumentation aus der Affäre ziehen können, sie seien gar keine Ältesten, so kann die Korrektur nicht greifen.

Ein weiteres Problem der informellen Leitung ist, dass für unbequeme Sachen meist keiner zuständig ist. Heikle und schwierige Situationen in der Gemeinde werden nicht gelöst, weil der Zuständigkeitsbereich nicht definiert ist. Das trifft natürlich nicht für alle Situationen zu. Es gibt selbstverständlich auch Brüder im informellen Dienst, die ihre Verantwortung auch in unbequemen Situationen geistlich wahrnehmen.

Das dritte Problem ist die Qualifizierung. In der informellen Leitung gibt es keine Qualifizierungsvoraussetzungen. In 1. Timotheus 3 und Titus 1 werden aber Voraussetzungen genannt, die ganz und gar ihre Berechtigung haben. Aber in der informellen Leitung werden diese Voraussetzungen nicht geprüft. So leiten auf einmal Brüder, die die Qualifikation in ihrer persönlichen Heiligung und in ihrer Begabung überhaupt nicht haben. Das kann fatale Wirkung zeigen.

Frage: Sie formulieren auf der Basis Ihrer Studien hochinteressante Thesen. Sie fordern etwa, die „Denomination der Brüdergemeinden“ (allein mit dieser Bezeichnung werden Sie bereits Widerspruch herausfordern) müsse zu einem Verständnis einer integrativen Leitungsstruktur finden (S. 156). Sie führen z.B. Gerhard Jordy und Eberhard Platte an (S. 107) als Beispiel für „Brüder“, die für eine Veränderung von Leitungsstrukturen eintreten. Glauben Sie, dass in Brüdergemeinden ein Umdenken stattfindet oder zu erwarten ist?

Schäfer: Ich weiß nicht, ob ich das glaube oder erwarte. Aber ich weiß, dass es sein muss. Zu lange haben die Brüdergemeinden nur auf das Erbe ihrer Väter geschaut, ohne dabei zu bemerken, dass diese auch lediglich Kinder ihrer Zeit waren. Es gibt keine standpunktlose Lehre – auch bei den Brüdergemeinden nicht. Auch die Väter der Brüdergemeinden haben die Bibel in ihrem Kontext interpretiert. Das muss erneut geschehen, sonst bauen die Brüdergemeinden auf eine Tradition. Ich habe den Begriff „die Denomination der Brüdergemeinden“ ja sehr bewusst gewählt. Wenn die Brüdergemeinden so am Erbe ihrer Väter festhalten, so bauen sie eine informelle Denomination. Also etwas, was ganz und gar nicht im Sinne der Väter wäre.

Frage: Sie empfehlen Brüdergemeinden „zur Überwindung des kongregationalen und des direktiven Leitungsansatzes“ die Inanspruchnahme externer Hilfe (S. 157). Auf welche Institutionen/Personen können interessierte Gemeinden zurückgreifen?

Schäfer: Es hat in der Vergangenheit immer wieder Brüder gegeben, die in ihrem überregionalen Dienst solche Aufgaben wahrgenommen haben. Zu erwähnen wären da Brüder wie Andreas Ebert oder Wolfgang Seit. Sie sind in den Gemeinden vor Ort und können gut beratende Tätigkeiten wahrnehmen. Als Institution ist sicherlich die Deutsche Inland-Mission mit den verschiedenen erfahrenen Gemeindegründern zu erwähnen. Die Arbeitsgemeinschaft der Brüdergemeinden hat eigens Brüder für diese Aufgabe abgestellt.

Frage: Von Ältesten ist es ein kleiner Schritt zu einem Pastor. Ein Pastor ist nach meinem Verständnis ein Ältester unter Ältesten, mit zwei Besonderheiten: Er hat erstens meist eine mehrjährige Ausbildung für diesen Dienst, und zweitens hat er mehr Zeit als andere für seinen Dienst, ist also sozusagen ein „hauptamtlicher Ältester“. Älteste und Pastoren haben so gesehen die Aufgabe, als Leiter die Gemeinde anzuleiten, ihre Gaben einzusetzen (vgl. Epheser 4,11f.). Dienende Leitung will und soll die Gaben der Gemeinde so zum Einsatz bringen, fördern; die Gemeinde zum Dienst befähigen und nicht entmündigen. Teilen Sie diese Sicht, oder gibt es aus Ihrer Sicht plausible Argumente dagegen, in größeren Gemeinden einen Pastor zu berufen? In Brüdergemeinden bestehen da ja aus Angst, eine klerikale Schicht zu fördern, große Vorbehalte.

Schäfer: Einen voll- oder teilzeitlichen Ältesten in einer Gemeinde zu haben ist durchaus biblisch. Paulus zeigt, dass Älteste, die gut vorstehen, doppelter Ehre wert sind. Das heißt, dass sie sicherlich auch davon leben dürfen, wenn sie der Gemeinde dienen. Allerdings halte ich die starke Tendenz zu vollzeitlichen Mitarbeitern auch für eine schwierige Entwicklung in den Brüdergemeinden. Zu viele vollzeitliche Mitarbeiter binden viele Ressourcen für die Missionsarbeit im eigenen Land und im Ausland. Es kann nötig sein, dass vollzeitliche Mitarbeiter in einer Gemeinde mit leiten. Allerdings sollte die Notwendigkeit mit mehr Nüchternheit bedacht werden.

Frage: Warum glauben Sie, „für die Brüdergemeinden als Denomination könnte die Differenz im Verständnis von Leitung aus traditionellen und pragmatischen sowie theologischen Gründen die weitreichende Folge einer weiteren Zersplitterung haben“ (S. 102)?

Schäfer: Die Frage nach dem Leitungsverständnis und nach dem Umgang mit Leitung nagt an den Wurzeln der Brüdergemeinden. Hier wird Meinung und Geschichte der Väter hinterfragt und mit dem biblischen Befund geprüft. Wenn dies nur von einzelnen Gemeinden getan wird und nicht im größeren Rahmen von Konferenzen und Schulungen, so werden Gemeinden sich aus unterschiedlichem Erkenntnisstand sehr unterschiedlich entscheiden. Das gemeinsame Betrachten der Geschichte und das gemeinsame Forschen in der Schrift kann eine Individualisierung in dieser Frage verhindern. Dazu braucht es die Offenheit der Gemeinden, sich auf eine solche Diskussion einzulassen. Das ist keine Stärke der Brüdergemeinden und deshalb eine besondere Herausforderung.


Die Fragen stellte Ulrich Müller. Das Interview wurde im Mai 2007 geführt.
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