Mission und Diakonie in der Brüderbewegung

Vortrag von Matthias Schmidt (Dillenburg, 18. Oktober 2003)


1. Mission in der Brüderbewegung

1.1. Die Anfänge

Mission und Diakonie gehören zu den wesentlichen Grundlagen neutestamentlicher Gemeinde. Unser Herr Jesus Christus predigte und heilte. Beides stand in Verbindung mit dem Reich Gottes, das in seiner Person auf der Erde Gestalt annahm. Predigen und Heilen, Mission und Diakonie können deshalb in keiner vom Neuen Testament geprägten Gemeinde- bzw. Erneuerungsbewegung fehlen.

Das gilt auch für die Brüderbewegung. Leider haben einseitige Betonung von Lehre und daraus erwachsene Lehrstreitigkeiten in der Geschichte dazu geführt, dass zumindest von außen Mission und Diakonie nicht so wahrgenommen wurden, dass sie als hervorstechende Merkmale von Brüdergemeinden erkannt und benannt worden wären. Dabei ist die weltweite Ausbreitung der Brüderbewegung gerade durch missionarisches Wirken möglich geworden.

Schon zu Beginn der Bewegung in England spielten innere und äußere Mission eine wichtige Rolle. Johannes Warns schreibt in seiner unvollendeten Brüder- bzw. Kirchengeschichte:

„Die Zeit vor hundert Jahren war, wie wir sehen, die Zeit einer allgemeinen mächtigen Missionsbewegung. Nur im Rahmen dieser allgemeinen mächtigen Erweckungsbewegung, die auf die französische Revolution und die Zeit der Umwälzungen in Europa folgte, kann die Brüderbewegung in ihrem Ursprung verstanden und in ihrer Entwicklung und ihren Zielen recht gewürdigt werden. Jene Bewegung trug auch einen die konfessionellen und nationalen Schranken nivellierenden Charakter. Das übertrug sich auch auf die Missionsarbeit, in der sich von Anfang an Gläubige aus den verschiedensten kirchlichen Lagern brüderlich zusammenfanden.

Der Mann, dessen Name an der Spitze der neuen ‚Brüderbewegung‘ steht und dessen Einfluß für viele bestimmend gewesen ist, war zugleich ein eifriger Missionsfreund und selbst Missionar: Anthony Norris Groves.“1

Groves wirkte mehrere Jahrzehnte in Bagdad und Indien. Johannes Warns hat in seiner Kirchengeschichte über das Wirken dieses Mannes, der auch sein gesamtes Vermögen in die Missionsarbeit steckte, ausführlich berichtet und gleichzeitig Prinzipien der Brüdermission aufgezeigt. Das Besondere bei Groves und seinen Freunden lag darin, dass sie unabhängig von einer Missionsgesellschaft arbeiteten und auch in finanzieller Hinsicht auf regelmäßige Einkünfte verzichteten und allein auf die Versorgung durch den Herrn vertrauten. Dieses Prinzip machte Schule und hatte Auswirkungen, z.B. auf Georg Müller mit seiner Waisenhausarbeit in Bristol oder die China-Inland-Mission Hudson Taylors.2

Wenn es im Folgenden um Mission der deutschen Brüderbewegung geht, möchte ich mich auf die Außenmission beschränken. Bisher gibt es keine lückenlose geschichtliche Aufarbeitung der außenmissionarischen Bemühungen der deutschen Brüderversammlungen, und in diesem Referat kann ich auch nur versuchen, einige Beispiele und Zusammenhänge aufzuzeigen. Im Grunde gibt es auch gar keine speziell deutsche Außenmission der Brüder. Die Arbeit trug sowohl bei den „Elberfeldern“ als auch bei den „Offenen Brüdern“ von Anfang an internationalen Charakter, wobei die Verbindung zu den englischen Brüdern sich als besonders prägend erwies.


1.2. Außenmission der „Elberfelder Brüder“

Die Entstehung der Brüderbewegung geschlossener Prägung in Deutschland geht insbesondere auf den Einfluss von John Nelson Darby zurück, dem die Absonderung und Sammlung der Gläubigen vorrangiges Anliegen war. So ist es nicht verwunderlich, dass der Gedanke an Außenmission zunächst nur schwach in Erscheinung trat. Es ist schon bemerkenswert, dass Carl Brockhaus als Freund von Darby dessen Ekklesiologie (Gemeindelehre) einschließlich der Absonderungslehre übernahm, gleichzeitig aber der Evangelisation und Mission starke Bedeutung zumaß. Das lässt sich u.a. daran erkennen, dass er dem Botschafter, der Zeitschrift, die er herausgab, ab 1878 die Mitteilungen aus dem Werke des Herrn in unseren Tagen beilegte. Ab 1910 lautete der Titel: Mitteilungen aus dem Werke des Herrn in der Ferne.3

Anfänglich enthielten die Mitteilungen vor allem Berichte ausländischer Missionare, die z.B. in Ägypten, China, Griechenland, Spanien, Russland, Südafrika oder Japan arbeiteten. Die Brüder bedankten sich für die finanzielle Unterstützung durch die deutschen Brüder und berichteten über die Entwicklung der Brüderversammlungen in den genannten Ländern. Neben den Missionaren kamen in den Mitteilungen auch einheimische Christen aus den Missionsgebieten zu Wort.

Rudolf Brockhaus, dem die Unterstützung der Außenmission besonders am Herzen lag, koordinierte mit anderen Brüdern die Verwendung und Verteilung der Gaben, die von deutschen Brüderversammlungen oder Privatpersonen eingingen.4 Interessant war die Art der „Spendenquittungen“. Auf der Innenseite des Deckblattes der Mitteilungen wurden die Spendeneingänge aufgelistet. Das konnte dann so lauten:

„Von Ungenannt, Postst. Krefeld, M. 5,- für Bibel- und Schriftenverbreitung in Rußland; von Sonntagschule in Oranienburg M. 10,- für wo am nötigsten; [...] von Ungenannt in Velbert M. 100,- für wo am nötigsten; von Z. in Unna für wirksame Brüder im Inland und für Werk im Ausland je M. 100,-; von den jungen Brüdern in Wermelskirchen M. 45,- je zur Hälfte für China und Rußland.“5

Später finden wir dann auch zunehmend Berichte deutscher Brüder, die im Ausland arbeiteten, vor allem in Ägypten und China. In Ägypten geht die Mission der Brüder auf den amerikanischen Missionar Benjamin F. Pinkerton zurück, der aufgrund der Lehren Darbys 1870 seine Missionsgesellschaft verließ und in Verbindung mit den Brüdern missionierte. Ähnlich verlief der Weg des deutschen Missionars Ludwig Schlotthauer, den die Rheinische Missionsgesellschaft (Barmen) nach Ägypten ausgesandt hatte. Beide missionierten unter koptischen Christen und Presbyterianern und trugen dazu bei, dass es in Oberägypten zur Bildung von Brüderversammlungen kam. Neben der Evangeliumsverkündigung bildete die Verbreitung der Absonderungslehre einen Schwerpunkt ihrer Arbeit. Diese erfuhr eine starke Belebung, als 1903 der Eisenbahningenieur Otto Blaedel nach Ägypten kam. Mit Hilfe von Spenden deutscher Brüder konnte er sich ein Nilboot anschaffen und so die Versammlungen im Niltal besser erreichen. Blaedel besaß auch einen Blick für die soziale Not von Frauen und Kindern in Oberägypten. Deshalb veranlasste er, dass Krankenschwestern aus Deutschland kamen, die in ihrem Dienst medizinische Arbeit, Mädchenschule und Evangeliumsverkündigung miteinander verbanden. Zu diesen Frauen gehörten Amanda Hohage, Klara Hackenstraß und Emmy Brockhaus. Die ägyptischen Brüder schätzten diesen Dienst sehr, während das Werk der Schwestern in den Mitteilungen folgendermaßen beurteilt wurde:

„Wenn es auch nicht mit dem Dienst unserer Brüder im Werk des Herrn auf gleichem Boden stehen kann, ist es doch gewiß als eine ‚Bemühung der Liebe‘ eine Hilfeleistung, dem Herrn wohlgefällig und zur Förderung des ganzen Werkes des Herrn in Ägypten dienlich.“6

Auch beim zweiten Schwerpunkt der Außenmission der Elberfelder Brüder, nämlich in China, erfolgte die Arbeit in Verbindung mit den englischen Brüdern. In der mittelchinesischen Stadt Hinghua, in der es nicht einen einzigen Gläubigen gab, arbeitete seit 1885 der englische Missionar Thomas Hutton, der sich aufgrund der Schriften Darbys von der China-Inland-Mission getrennt hatte. Erste Mitarbeiterin wurde Helene von Poseck, die Tochter von Julius Anton von Poseck. Auch hier bildete die Tür für die Evangeliumsverkündigung die medizinisch-soziale Arbeit. Dr. Hans Neuffer, später Präsident der deutschen Ärztekammer, schreibt im Oktober 1923:

„Wenn nun heute ein den hiesigen Verhältnissen angepasstes, gut eingerichtetes Krankenhaus mit 25 Betten, Poliklinik, Operationssaal, Apotheke usw. vollendet dasteht, wenn all die vielen Schwierigkeiten bei der Eingewöhnung in einem fremden Land und bei dem Bau des Hospitals überwunden hinter uns liegen, wenn ich mir noch einmal vor Augen führe, wie die freigebige Liebe von Geschwistern aller Länder zusammengewirkt hat, um die Mittel zu dem Bau bereitzustellen, wenn ich mich erinnere an die tägliche Hilfe des Herrn bei den Operationen und anderen Gelegenheiten, dann bin ich notwendigerweise gedrungen, mit dem Psalmisten auszurufen: ‚Du bist der Gott, der Wunder tut!‘ (Ps. 77,14).“7

Wie medizinisches Wirken Möglichkeiten für die Verkündigung des Evangeliums eröffnete, zeigt ein weiterer Ausschnitt aus der Ansprache von Dr. Neuffer:

„Zwei Tage vorher [vor Eröffnung des Krankenhauses] erschien ein früherer Major, der wegen Gelenkrheumatismus behandelt worden war, mit einer 40 Mann starken Schar Soldaten unter Trommel- und Pfeifenklang. [...] Für uns wurde es eine seltene Gelegenheit, um die Botschaft von Gottes Liebe auch diesen Leuten auszurichten, die sonst nicht zu uns kommen. Während des anschließenden Imbisses erklärten wir den Gästen den Zweck unseres Kommens und die Bedeutung der Person Jesu für jeden einzelnen Menschen.“8

Infolge von Revolution und Krieg konnte diese Arbeit nur unter großen Einschränkungen und Entbehrungen fortgeführt werden. 1948 mussten die letzten deutschen Missionare China verlassen.


1.3. „Bibelschule für innere und äußere Mission“

Im Unterschied zu den außenmissionarischen Bemühungen der „Elberfelder Brüder“, die auch in den Missionsgebieten die Absonderungslehre Darbys vertraten, erwuchs die außenmissionarische Arbeit der „Offenen Brüder“ aus der Evangelischen Allianz. So erfolgte schon 1904 im Allianzblatt der Aufruf zur Gründung einer Bibelschule, weil die vorhandenen Evangelistenschulen nicht ausreichten, um den Bedarf im In- und Ausland zu decken.

Drei biblische Wahrheiten prägten den geistlichen Aufbruch Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in den Allianzkreisen:

  1. Christus, der Retter von heute und jetzt;
  2. die Sammlung der neutestamentlichen Gemeinde im Blick auf die nahe Wiederkunft Christi;
  3. die Verkündigung des Evangeliums bis an die Enden der Erde.

Auch Osteuropa wurde von dieser Erweckungsbewegung erfasst. Dr. Friedrich Wilhelm Baedeker von den „Offenen Brüdern“, der besonders in Russland missionierte, setzte sich in Berlin nachdrücklich für die Gründung einer Bibelschule ein. Im zaristischen Russland war das unter dem Druck der Orthodoxen Kirche nicht möglich. Von Seiten der Baptisten gehörten zu den Befürwortern und Förderern einer Bibelschule die Missionsinspektoren Karl Mascher und Friedrich Wilhelm Simoleit von der Kamerunmission. Mascher taufte drei russische Brüder, die die Bibelschule von Johannes Lepsius, dem Gründer der Orientmission, besuchten, die daraufhin von der Schule verwiesen wurden. Es gab also schon vor dem offiziellen Beginn der Bibelschule etliche russische Brüder in Berlin, die nur darauf warteten, eine Ausbildung zu erhalten.

Dass die Allianzbibelschule sich in Richtung „Offene Brüder“ entwickelte, lag einmal am Selbstverständnis der „Offenen Brüder“ mit ihrer freien Gemeindestruktur und Allianzgesinnung, aber auch an der engen Beziehung zur Gemeinde Hohenstaufenstraße, die sich immer mehr zu einer Brüdergemeinde entwickelte und ihre Räumlichkeiten für den Unterricht zur Verfügung stellte.

Johannes Warns, neben Christoph Köhler Lehrer an der Bibelschule, unternahm zahlreiche Auslandsreisen, besonders in die Länder, aus denen Bibelschüler nach Berlin und später Wiedenest kamen. Diese Reisen trugen zur Stärkung und Ordnung der Gemeinden und ihres missionarischen Dienstes bei. In den beiden Zeitschriften Mitteilungen der Bibelschule und Offene Türen berichteten ehemalige Bibelschüler über ihren Dienst und die Situation in ihren Heimatländern. Auffallend oft wurden Berichte über die Missionsarbeit in Russland und die schwierige geistliche und soziale Situation in diesem Land veröffentlicht.

Im Juli 1912 finden wir in den Mitteilungen der Bibelschule folgenden Artikel, aus dem ich auszugsweise zitiere. Er ist überschrieben:

Unsere besondere Aufgabe

Als unsere erste Aufgabe erkennen wir nach wie vor die Ausbildung geeigneter Boten des Evangeliums für Rußland. Dieses weite Missionsfeld mit seinen 160 Millionen Einwohnern bedarf dringend der tatkräftigen Hilfe der Gläubigen in anderen Ländern.

Es sind besonders vier Gründe, die unsere Bibelschule für die Ausbreitung des Evangeliums in Rußland zur Notwendigkeit machen.

Erstens das große geistliche Bedürfnis und Verlangen überall. Wenn wir die Gelegenheit versäumen, so werden allerlei Sekten sie benutzen.

Zweitens die Tatsache, daß in Rußland selbst keine Möglichkeit ist, frei und ungehindert ein solches Werk ins Leben zu rufen, wie die Bibelschule es treibt. [...]

Drittens. Bei der großartigen Ausdehnung der Evangelisationsarbeit von Polen durch Rußland und Sibirien bis nach Korea, vom Kaukasus bis an das Weiße Meer sind lehrfähige Brüder mit gründlicher Schriftkenntnis unbedingt nötig, um die zahlreichen Gläubigen weiter zu führen, damit die ganze Bewegung in gesunden Bahnen bleibt.

Viertens. Die russischen Gläubigen sind durchweg arm. Ihre Opferwilligkeit ist groß, reicht aber kaum hin, um die Bedürfnisse der eigenen Versammlungen zu befriedigen.“ 9

Der Blick für die Not, aber auch für die missionarischen Möglichkeiten im gewaltigen russischen Reich und in anderen osteuropäischen und Balkanländern zeigt den weiten Horizont, den die Brüder in Berlin bzw. Wiedenest besaßen. Dass Bibelschule und Mission aufs Engste miteinander verknüpft waren, lässt sich auch daran erkennen, dass Johannes Warns von der Bibelschule als „unserem Missionshaus“ sprach. An dieser Stelle möchte ich einmal folgende These wagen: Im Rahmen der Offenen Brüder war Bibelschule ohne Mission und Mission ohne Bibelschule undenkbar.

Auch nach dem Umzug der Bibelschule nach Wiedenest im Jahre 1919 blieb das missionarische Anliegen erhalten. So arbeiteten 1928 Wiedenester Bibelschüler in 21 Ländern. Auch bei Erich Sauer, dem wohl bedeutendsten Lehrer dieser Schule, spielte die Mission eine entscheidende Rolle. Schon als Vierzehnjähriger verspürte er bei einem Missionsvortrag des China-Missionars Ernst Kuhlmann seine Berufung zum Missionsdienst.10 Auch wenn er dann nicht direkt als Missionar ins Ausland ging, hat er vielen potentiellen Missionaren entscheidende Impulse für ihren Dienst vermittelt.


1.4. Die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg

Während des Zweiten Weltkrieges kam die Missionsarbeit der deutschen Brüder praktisch zum Erliegen. Von 1943 bis 1948 hatte das ausgebombte Theologische Seminar Hamburg in Wiedenest Unterkunft gefunden. Als dieses den Unterricht in Hamburg wieder aufnehmen konnte, kam es bei den Wiedenester Mitarbeitern zu intensivem Beten und Ringen, was der Herr nun mit dem Werk vorhatte.

Ernst Schrupp, der durch Erich Sauer 1948 als theologischer Lehrer an die Bibelschule berufen wurde, schreibt über diese Zeit:

„Der Weltkrieg wurde nicht der Abbruch der Mission, sondern aus dem Zusammenbruch geschah ein neuer Aufbruch mit starker Blickrichtung auf die Wiederkunft Christi. [...] Der Missionsbefehl gilt weiter [...]. Einen Befehl an der Front vor dem Feind verweigern wird mit dem Tod bestraft. Gemeinden, die nicht zur Mission geführt werden, geraten in geistlichen Schlaf – ‚entschlafen‘.“11

Erich Sauer erklärte 1952 in der ersten nach dem Krieg erschienenen Ausgabe der Offenen Türen programmatisch:

„Gemeinde und Weltmission gehören zusammen. Die kleine Schar derer, die zu Christus gehören, sind die Mitarbeiter Gottes zur Durchführung seiner großen Reichspläne. [...] Offene Türen für die Weltmission! – Dies ist ein Wort der Verpflichtung. Unsere Gemeinden müssen wieder Missionsgemeinden werden. Unsere Gebetsstunden müssen missionarisches Gepräge bekommen. In unseren Gemeindestunden und Gebetsversammlungen müssen Briefe und Berichte aus dem Missionsfeld bekannt gegeben und zum Teil auch vorgelesen werden.“

Den Artikel beendet er mit dem Aufruf:

„Jeder Christ – ein Missionar! Jede Ortsgemeinde – eine Missionsgemeinde!“12

Im gleichen Jahr 1952 hielt Erich Sauer auf der Berliner Konferenz einen Vortrag zum Thema „Unser Missionsauftrag“. Auf die Frage „Warum treiben wir Mission? Warum muß die Gemeinde Jesu immer wieder Mission treiben? Warum darf sie es tun?“ antwortete er in vier Punkten:

  1. „Wir treiben Mission, weil Jesus Christus der einzige Retter der Welt ist. [...]
  2. Wir treiben Mission, weil Christus es befohlen hat. [...]
  3. Wir treiben Mission, weil dies aus dem Wesen der Gemeinde als ‚Leib‘ Christi hervorgeht. [...]
  4. Wir treiben Mission, denn: ‚Mission ist Dank für Golgatha‘.“13

Jetzt geschah etwas Besonderes: Führende Brüder aus westdeutschen Brüdergemeinden, sowohl von den gerade entstandenen „Freien Brüdern“ als auch aus so genannten „Bundesgemeinden“, versammelten sich, um das Anliegen der Weltmission voranzubringen. Als Ergebnis kam es zur Vereinigung der drei außenmissionarischen Arbeiten der deutschen Brüderbewegung. Das waren:

  1. die „Heidenmissionsarbeit“ der Elberfelder Brüder (Ägypten und China),
  2. die „Velberter Missionshilfe e.V.“ (Ernst Kuhlmann),
  3. die „Bibelschule für innere und äußere Mission“.

Das neue gemeinsame Missionswerk bekam den Namen „Missionshaus Bibelschule Wiedenest e.V.“ (MBW). Zu betonen ist jedoch, dass damit nicht eine Missionsgesellschaft ins Leben gerufen wurde, die Missionare aussandte und finanzierte. Das Missionshaus sah und sieht bis heute seine Aufgabe darin, örtliche Gemeinden in Verwaltungs- und Rechtsfragen mit Fachkompetenz zu unterstützen sowie die Missionsarbeit in verschiedenen Ländern zu koordinieren.

Bis heute gilt das Prinzip der „sendenden Gemeinde“. Dazu schreibt Ernst Schrupp in seinem Buch Gott macht Geschichte:

„Die Gemeinde ist zugleich Ziel und Träger der Sendung. Diese Sendung ist grenzüberschreitende Mission in alle Wohn- und Aktionsbereiche der Menschheit hinein. Dieser Missionskurs der Gemeinde in der Apostelgeschichte (von Jesus in Apg. 1,8 festgelegt) ist normativ und damit auch für uns heute verbindlich. So bedeutet Mission ‚Gemeinde in der Sendung‘, und Gemeinde bedeutet ‚fortschreitende Mission‘.“14

Im Jahr 2002, zum fünfzigjährigen Jubiläum des Missionshauses, konnten wir dankbar feststellen, dass Gemeinden in Verbindung mit Wiedenest bisher 365 Missionare in ca. 20 Länder aussenden und begleiten konnten. Als Schwerpunktländer sind Tansania, Nepal, Pakistan und Österreich zu nennen.

Obwohl von Anfang an „Freie Brüdergemeinden“ an der Aussendung von Missionaren in Verbindung mit Wiedenest beteiligt waren, hat sich innerhalb der Freien Brüdergruppe eine eigene außenmissionarische Arbeit herausgebildet, über die in der Zeitschrift Berichte über die Verkündigung des Evangeliums in verschiedenen Ländern informiert wurde. Finanzielle Gaben erhalten diese Missionare u.a. aus der Kasse „Werk des Herrn“.15

Die außenmissionarische Arbeit geschieht in vielen Ländern in engster Beziehung zur Diakonie. Besonders in etlichen muslimischen Staaten wäre dieser Dienst sonst gar nicht möglich. So arbeiten unsere Missionare nicht nur als Evangelisten und Gemeindegründer, sondern auch als Ärzte, Krankenschwestern oder Handwerker. Da zeigt sich, dass wir besonders in diesem Zusammenhang Mission und Diakonie nicht voneinander trennen können.

Zusammenfassend möchte ich sagen, dass die Unterstützung und somit Teilhabe an der Außenmission vielen deutschen Brüdergemeinden ein Herzensanliegen war. Allerdings müssen wir auch feststellen, dass die Begeisterung für diesen Auftrag unseres Herrn oft nicht mehr so stark ausgeprägt ist wie in den fünfziger Jahren. Eine große Aufgabe und Herausforderung liegt in dem Anliegen, bei Gemeinden und da besonders bei jungen Leuten das Interesse an der Mission neu zu wecken und zu fördern.


2. Diakonie in der Brüderbewegung

Von Anfang an spielte der Dienst am Nächsten in den Gemeinden des Neuen Testaments eine wichtige Rolle. Davon zeugen die Apostelgeschichte und die Briefe des Apostels Paulus oder der Jakobusbrief. Zum Beispiel trug der diakonische Einsatz der Jerusalemer Gemeinde dazu bei, dass diese Anerkennung beim Volk fand und Menschen zum Glauben an Jesus Christus kamen. Wenn auch die Verkündigung des Evangeliums stets Vorrang hatte, wurden Verkündigung des Evangeliums und der Dienst der tätigen Liebe als gleichwertig angesehen.


2.1. Das Vorbild der „Gründerväter“

Eine ausgeprägte diakonische Gesinnung können wir schon bei den Gründervätern der Brüderbewegung beobachten. Die Brüderbewegung in England und Deutschland entstand in der Epoche der industriellen Revolution mit der Folge der Verarmung breiter Volksschichten. Die Herausforderung, gerade den letzten Gliedern der Elendskette, nämlich den Kindern, Gutes zu tun, nahm in vorbildlicher Weise Georg Müller an. Er ist als „Waisenvater von Bristol“ in die Geschichte eingegangen. Im Laufe seines Lebens sorgte er dafür, dass zehntausend Kinder ein menschenwürdiges Dasein und eine Ausbildung erhielten. Auch Carl Brockhaus hatte schon in frühen Jahren einen Blick für die sozialen Nöte von Menschen, die durch die Ausbeutung der Fabrikarbeiter im Wuppertal entstanden waren. 1849 gründete er den „Elberfelder Erziehungsverein“, der sich um Unterbringung und Erziehung verwahrloster Kinder kümmerte.


2.2. Bereiche diakonischer Arbeit

Wenn es um charakteristische Merkmale von Brüdergemeinden geht, wird man wahrscheinlich nicht sofort an den Bereich der Diakonie denken. Die Fragen von Lehre und Mission finden in der Regel wesentlich mehr Beachtung als die sozialdiakonische Verantwortung. Trotzdem wäre es falsch zu behaupten, dass Diakonie in der deutschen Brüderbewegung ausgeblendet wurde. Dieser Dienst geschah und geschieht weithin in der Stille, also ohne viel Aufhebens zu veranstalten. Sehr viele Dienste an Bedürftigen geschehen in den örtlichen Gemeinden, teils spontan, teils durch gemeindediakonische Arbeitskreise.

Im Folgenden möchte ich kurz auf fünf diakonische Bereiche eingehen, die über diesen Rahmen hinausgehen: Arbeit an Kindern; Hilfe für Behinderte; Arbeit an alten Menschen; Mutterhausdiakonie; Hilfe für wirtschaftlich und politisch Benachteiligte.


2.2.1. Arbeit an Kindern

In den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts und nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zur Gründung mehrerer Kinderheime und Kindergärten durch die Brüder in Deutschland. Anliegen war es, elternlosen Kindern oder solchen aus problematischen Verhältnissen eine familiäre Betreuung und christliche Erziehung zukommen zu lassen. Eine Aufzählung der verschiedenen Arbeiten enthält der Artikel „Brüderbewegung und Diakonie“ von Eberhard Platte.16


2.2.2. Hilfe für Behinderte

Zu denen, die in besonderer Weise auf Hilfe und Betreuung angewiesen sind, gehören geistig behinderte Menschen. Ein Beispiel für den Dienst an dieser Personengruppe stellt die Initiative des thüringischen Schneidermeisters Johannes Saal dar. Er erwarb sich in so genannten Irrenanstalten Fachkenntnisse für den Umgang mit geistig behinderten Menschen. 1873 wagte er im Vertrauen auf Gott, ohne eigenes Kapital zu besitzen, die Gründung einer „Privatblödenanstalt“ in der Nähe von Meiningen. Besondere Unterstützung fand er in diesem Dienst durch Dr. Emil Dönges, einem der führenden deutschen Brüder dieser Zeit. Als die Arbeit an den Behinderten wuchs, konnte in dem Dorf Aue bei Schmalkalden ein Gebäudekomplex erworben werden. Hier wurden Behinderte nicht nur verwahrt, sondern durch Arbeitstherapie in Handwerk und Landwirtschaft auch gefördert. Beim fünfzigjährigen Jubiläum dieser Anstalt lebten und arbeiteten dort 70 männliche und 64 weibliche Pfleglinge sowie ca. 20 Mitarbeiter. Während der DDR-Zeit konnte diese Arbeit im Rahmen des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden weitergeführt werden und besteht heute als „Christliche Wohnstätten Schmalkalden“ weiter. Jetzt werden dort 120 Bewohner mit geistigen Behinderungen und 40 Alkoholkranke von 115 Mitarbeitern betreut.


2.2.3. Dienst an alten Menschen

Mehrere Alten- und Pflegeheime, die in der Regel durch einen Verein unterhalten werden, entstanden im Zusammenhang mit den Brüdergemeinden, so z.B. in Wuppertal-Ronsdorf, Crivitz und Burbach-Lützeln. Hier dürfen hilfsbedürftige Menschen medizinische und seelsorgerliche Betreuung erfahren. Dass in solchen Häusern nicht nur diakonisch gearbeitet wird, durfte ich persönlich erfahren. In der Brüdergemeinde, die sich im Altenheim Crivitz versammelt, durfte ich zum persönlichen Glauben an Jesus Christus finden.


2.2.4. Mutterhausdiakonie

Nicht unerwähnt soll der Dienst bleiben, der durch das Diakonissenmutterhaus „Persis“ in Wuppertal-Elberfeld seit 1929 geschieht. Das Anliegen des Hauses wurde wie folgt beschrieben: „weibliche Personen zur Ausübung christlicher Liebestätigkeit heranzubilden, sei es zur Krankenpflege, zur Pflege von Kindern in Kinderheimen, zur Betreuung von Alten und Gebrechlichen oder zur Ausübung von Diakonie und Fürsorgewesen in den Gemeinden“.17


2.2.5. Hilfe für wirtschaftlich und politisch Benachteiligte

Die Nachkriegszeit in Deutschland war von großem Mangel an Nahrungsmitteln und Kleidung bestimmt. In dieser Situation erfuhren die deutschen Brüdergemeinden internationale Solidarität. Lebensmittel- und Kleiderspenden gingen aus Nordamerika, Großbritannien, Schweden und Südafrika ein. Die diakonische Herausforderung bestand darin, diese Hilfsgüter gerecht zu verteilen. Das geschah durch die so genannte „Bruderhilfe“ mit ihren beiden Zentren in Dillenburg und Leipzig. Als sich die Situation in Westdeutschland stabilisierte, wurde über die Bruderhilfe ein Paketversand organisiert, der 40 Jahre lang, d.h. bis zur Wende, andauerte. Dadurch entstanden viele gemeindliche und geschwisterliche Verbindungen zwischen Ost und West.

Ebenfalls zur Unterstützung der Geschwister in der DDR wurde die „Schriftenhilfe Ost“ ins Leben gerufen, die es sich zur Aufgabe setzte, den ostdeutschen Geschwistern Bibeln, Liederbücher und andere christliche Literatur zukommen zu lassen. Später erweiterte sich diese Hilfe, indem Gemeinden für die Errichtung ihrer Versammlungsräume mit Baumaterial versorgt wurden, das in der DDR nur schwer zu beschaffen war. 1980 hieß es z.B. in einem Protokoll: „In Crivitz könnte für das Hauptgebäude noch einiges zu liefern sein, wie Fliesen, Armaturen und Beschläge.“ Weiter ging es um Beschläge für die Christliche Pflegeanstalt in Schmalkalden-Aue. Die Bibelschule Burgstädt sollte Fliesen, Beschläge und Wasserarmaturen erhalten usw. Wir Reisebrüder profitierten von dieser Einrichtung, indem wir Pkw zur Verfügung gestellt bekamen, die über die Firma GENEX vermittelt wurden.

Die Freien Brüder richteten daneben noch die „Literaturhilfe Ost“ ein, die die DDR-Versammlungen z.B. mit Dillenburger Kalendern versorgte. Sehr dankbar waren wir auch für die Kinderkalender.

Neben der DDR standen aber auch andere Ostblockstaaten wie Polen, die CSSR, Ungarn oder Rumänien im Blickpunkt der westdeutschen Brüderversammlungen, die ähnlich wie die DDR-Gemeinden unterstützt wurden. Diese Hilfe hält bis heute an und wird durch unterschiedliche Hilfsorganisationen wie Gemeindehilfe Ost, Bibel- und Missionshilfe Ost, Humanitäre Mission e.V. Hammerbrücke oder auch Einzelinitiativen geleistet. Auch in dieser Art von Diakonie verwirklichen deutsche Brüdergemeinden die Aufforderung des Hebräerbriefs: „Das Wohltun und Mitteilen aber vergesst nicht, denn an solchen Opfern hat Gott Wohlgefallen.“

Mission und Diakonie bleiben auch für die Zukunft wesentliche Herausforderungen für die Brüdergemeinden, da sie dem Wunsch und Willen unseres Herrn Jesus Christus entsprechen.


Anmerkungen:

[1] Johannes Warns, Brüdergeschichte, o.J. (unveröffentlicht), Kap. 17, S. 1.

[2] Vgl. ebd., S. 3.

[3] Vgl. Gerhard Jordy, Die Brüderbewegung in Deutschland, Band 2, Wuppertal (R. Brockhaus) 1981, S. 46.

[4] Vgl. ebd., S. 47.

[5] Mitteilungen aus dem Werke des Herrn in der Ferne 1927.

[6] Mitteilungen aus dem Werke des Herrn in der Ferne 1929, S. 114.

[7] Mitteilungen aus dem Werke des Herrn in der Ferne 1924, S. 12.

[8] Ebd., S. 12f.

[9] Mitteilungen der Bibelschule 3 (Juli 1912).

[10] Vgl. Ernst Schrupp (Hrsg.), Im Dienst von Gemeinde und Mission. 75 Jahre Bibelschule und Mission 1905-1980, Wiedenest (Missionshaus Bibelschule) 1980, S. 23.

[11] Ernst Schrupp, Gott macht Geschichte. Die Bibelschule und das Missionshaus in Wiedenest, Wuppertal/Zürich (R. Brockhaus) 1995, S. 136f.

[12] Offene Türen 32 (1952), Heft 1, S. 2f.

[13] Die Botschaft 93 (1952), S. 22f.

[14] Schrupp, Gott macht Geschichte, S. 162.

[15] Vgl. Gerhard Jordy, Die Brüderbewegung in Deutschland, Band 3, Wuppertal (R. Brockhaus) 1986, S. 353.

[16] In: Gerhard Jordy (Hrsg.), 150 Jahre Brüderbewegung in Deutschland, Dillenburg (Christliche Verlagsgesellschaft) 2003, S. 103-109.

[17] Zitiert nach Gerhard Jordy, „Geschichte der Diakonie in der Brüderbewegung“, in: Perspektive 2 (2002), Heft 7-8, S. 22.

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