Rezension


200 Jahre John Nelson Darby
Hrsg. vom Dokumentationszentrum für Geschichte der Brüderbewegung
edition Wiedenest
Hammerbrücke (concepcion Seidel / Jota Publikationen) 2000
91 Seiten. ISBN 3-933750-16-4. € 7,95


Es ist eine einigermaßen erstaunliche Tatsache, dass die 200. Wiederkehr des Geburtstages John Nelson Darbys am 18. November 2000 unter seinen Kritikern mehr Beachtung gefunden hat als unter seinen Verehrern. Während diejenigen Teile der Brüderbewegung, denen Darbys Person und Werk als unantastbare Autorität gelten, offenbar keinen Anlass für eine besondere Beschäftigung mit ihrem „geistlichen Vater“ sahen, bemühten sich solche, die sich in den letzten Jahren von seiner Autorität gelöst haben oder für die er nie eine Autorität darstellte, recht intensiv um eine Würdigung seines geistlichen Vermächtnisses. In Amsterdam fand am 18. November ein „Begegnungs- und Studientag“ zum Thema Darby und Jan de Liefde statt, wobei u.a. Willem J. Ouweneel und Henk P. Medema als Referenten auftraten; die November-Ausgabe des Bode van het heil in Christus war ausschließlich John Nelson Darby gewidmet (mit Artikeln von Ouweneel, Medema, Johan Ph. und Jaap G. Fijnvandraat, Hans Arentsen und Simon Streuper). Bereits am 13. Mai hatte auch im oberbergischen Wiedenest eine Gedenkveranstaltung „200 Jahre John Nelson Darby“ stattgefunden, und zwar in Verbindung mit der Jahrestagung des „Dokumentationszentrums für Geschichte der Brüderbewegung“ im Missionshaus Bibelschule Wiedenest. Als Redner waren wiederum Willem J. Ouweneel sowie Gerhard Jordy und Bernd Brockhaus eingeladen. Die Vorträge dieses Tages sind nun – als erster Band einer neuen Reihe „Edition Wiedenest“ – auch in Buchform erschienen.

(1) Der Hauptvortrag am 13. Mai, überschrieben „200 Jahre John Nelson Darby – Kritische Würdigung zu Person und Werk“, wurde von Willem J. Ouweneel gehalten (oder genauer gesagt abgelesen, denn ganz gegen seine Gewohnheit sprach Ouweneel nicht frei). In der gedruckten Form trägt er den Titel „John Nelson Darby (1800–1882): Person, Leben, Denken, Wirken“ (S. 5–29), was nicht unbedingt eine Verbesserung darstellt, denn über Darbys Leben erfährt man nur sehr wenig; es handelt sich tatsächlich um eine „kritische Würdigung“ seiner Person und seines Werkes aus der Sicht Ouweneels. Schon gleich zu Beginn stellt Ouweneel klar, dass man von ihm „keine objektive Distanz“ zu seinem Thema erwarten könne (S. 6), da er zu eng mit der Brüderbewegung und ihrer Entwicklung in den letzten Jahrzehnten verbunden sei. In seinen jüngeren Jahren habe er viele von Darbys Auffassungen „mit Freuden übernommen“; inzwischen jedoch könne er manche davon nicht mehr „als völlig schriftgemäß betrachten“ (S. 5). Das Aufzeigen solcher nicht schriftgemäßer Lehren steht denn auch im Mittelpunkt seines Vortrages. Nach einem sehr knappen Überblick über Darbys Leben (S. 7f.) skizziert er zunächst fünf zentrale Bereiche seiner Theologie: seine Eschatologie, seine Ekklesiologie, seine Soteriologie, seine Geschichtsauffassung und seine Typologie (S. 8–13). In allen fünf Bereichen meldet Ouweneel Bedenken an. So erscheinen ihm etwa der „strenge Dispensationalismus“ (S. 9), die einseitige Betonung der „Stellung“ und der himmlischen Berufung des Christen (S. 11) sowie die „Verfallslehre ... und besonders deren Konsequenzen“ (z.B. die Auffassung, in der Zeit des Verfalls könnten keine Ältesten mehr eingesetzt werden; S. 12) nicht akzeptabel. Auch bemängelt er, dass „die große Vorliebe für die Typologie ... schon bei Darby meistens die grammatisch-historischen Aspekte besonders des Alten Testaments zu kurz [habe] kommen lassen“ (S. 13).

Der folgende Abschnitt (S. 14–17) ist Darbys Auffassung von der „Einheit des Leibes“ gewidmet. Das ursprüngliche Anliegen der „Brüder“, einen neutralen Boden für alle wahren Gläubigen darzustellen und keine „neue ‚Glaubensgemeinschaft‘ unter vielen zu werden“ (S. 15), also keine eigene Gemeindeidentität herauszubilden, hält Ouweneel für ein gut gemeintes Ideal, das aber nicht erreicht worden sei und auch nicht habe erreicht werden können. Schon Darby selbst habe „durchaus nicht alles unternommen ..., um eine eigene Identität der ‚Brüderbewegung‘ zu vermeiden. Im Gegenteil: Von Anfang an hat besonders Darby (unbewusst) alles dafür getan, der ‚Brüderbewegung‘ eine absolut einmalige Identität zu geben“ (S. 15). Ouweneel denkt hier u.a. an den Verzicht auf menschliche Leitung in den Zusammenkünften und die Betonung der „freie[n] Wirksamkeit des Heiligen Geistes“ (S. 17), was in der Kirchengeschichte einmalig gewesen sei und sich in dieser Form auch „schwierig in der Schrift nachweisen“ lasse (ebd.). Auf eine ausführlichere Erörterung dieses Punktes lässt Ouweneel sich leider nicht ein. Trotz mancher Fragen im Detail wird man seinem Fazit aus diesem Abschnitt insgesamt zustimmen können: „Kein Wunder, dass die ‚Brüderbewegung‘ einen sehr spezifischen Charakter bekam, ja, unter der Bezeichnung ‚Christen ohne Sonderbenennung‘ eine sehr ausgeprägte Benennung wurde“ (S. 17).

Ouweneel hält die beiden ekklesiologischen Ideale Darbys, Einheit und Absonderung, letztlich für unvereinbar (S. 18); in dieser Unvereinbarkeit sieht er auch den Grund für die meisten Spaltungen in der „Brüdergeschichte“. Nachdem sich Darby 1848 von den extrovertierten, nach der Einheit aller Gläubigen strebenden „offenen Brüdern“ getrennt hatte, sei die „Einheit des Leibes“ immer mehr durch die Einheit der „exklusiven Brüdergemeinden“ ersetzt worden (S. 23). In Darbys letzten Jahren sei dann das „Versammeln auf der Grundlage der Einheit des Leibes“ einfach damit gleichgesetzt worden, sich den „exklusiven Brüdern“ anzuschließen (S. 25) – für Ouweneel „fast das Entgegengesetzte von dem, was Darby am Anfang lehrte ...; wenn man aber dessen ganzes Leben überblickt, fragt man sich immer wieder in tiefem Ernst, inwieweit er für diese Entwicklung mitverantwortlich gewesen ist“ (S. 26).

Am Ende seines Vortrages versucht Ouweneel eine zusammenfassende Würdigung des geistlichen Erbes Darbys. „Seine Soteriologie und Typologie, und ganz besonders seine Eschatologie“, so stellt er fest, „beeinflussen noch immer Millionen von evangelikalen Christen; in dieser Hinsicht ist er vielleicht die wichtigste Persönlichkeit der evangelikalen Christenheit des 19. Jahrhunderts gewesen. Zu gleicher Zeit ist von seiner Ekklesiologie wenig übriggeblieben, erstens weil deren beste Elemente außerhalb der ‚Brüderbewegung‘ heutzutage besser als innerhalb dieser Bewegung verwirklicht werden. Zweitens sind andere an sich positive Elemente der Ekklesiologie Darbys in den vielen Strömungen der ‚exklusiven Brüder‘ so stark entartet, dass dem Namen des Herrn dadurch viel Unehre angetan worden ist. Daran war Darby m.E. zum Teil selbst schuld“ (S. 28).

Trotz aller Kritik schließt Ouweneel dann doch versöhnlich, indem er auf einige Punkte hinweist, in denen Darby uns auch heute noch als Vorbild dienen könne. Die meisten dieser Punkte (z.B. Bibeltreue, Betonung des persönlichen Glaubenserlebens, Anteilnahme an Evangelisation, Seelsorge, Armenfürsorge) treffen freilich auch auf andere „evangelikale“ Führer des 19. Jahrhunderts zu, sodass Darbys Individualität gerade in dieser positiven Charakterisierung kaum sichtbar wird. Wenn Ouweneel abschließend den Wunsch ausspricht, „nicht das Schwache in seinem [Darbys] Denken und Wirken soll[e] im Gedächtnis zurückbleiben, sondern das Großartige, das über alle Zersplitterung der ‚Brüderbewegung‘ und über so manche modische Neuerung auf christlichem Gebiet hinausragt“ (S. 29), so wirkt dies nicht ganz überzeugend, hat er doch gerade selbst fast 20 Seiten darauf verwendet, das „Schwache“ in Darbys Denken und Wirken aufzuzeigen, während sich das „Großartige“ auf weniger als einer Seite zusammenfassen ließ. Viele seiner Kritikpunkte sind sicher berechtigt; man hätte sich jedoch oft eine klarere Formulierung der biblischen Alternativen zu den als einseitig oder nicht schriftgemäß dargestellten Lehrauffassungen Darbys gewünscht. Aber vielleicht war dies in einem einstündigen Vortrag auch nicht zu leisten.

Für den Druck wurde Ouweneels Referat sprachlich etwas geglättet und von Niederlandismen befreit. (Um nur ein Beispiel zu nennen: Aus seiner Formulierung „Es ist mit einer gewissen Zögerung, dass ich die Einladung ... angenommen habe“ wurde „Mit einem gewissen Zögern habe ich die Einladung ... angenommen“ [S. 5].) Hier und da sind auch Aussagen inhaltlich abgeschwächt oder verstärkt worden, ohne dass dabei eine einheitliche Tendenz zu erkennen wäre. Wenn Ouweneel beispielsweise in der Einleitung seines Vortrages festgestellt hatte, dass „noch Hunderte von Gemeinden den Exklusivismus in seiner traditionellen Form ... weiterhin vegetieren lassen“, wurde dies im Druck zu „weiter bestehen lassen“ abgeschwächt (S. 5f., Hervorhebung von mir); der unmittelbar folgende Satzteil „tun sie das oft kaum noch nach den ursprünglichen Prinzipien Darbys“ wurde dagegen verstärkt und verabsolutiert – er lautet jetzt „tun sie das nicht länger nach den ursprünglichen Prinzipien Darbys“ (ebd.).

Zu bemängeln ist, dass Ouweneel die von ihm angeführten Zitate nicht belegt, was in der gedruckten Fassung ja leicht möglich gewesen wäre; nennt er auf S. 8 immerhin noch den Namen einer Autorin (Elisabeth Kluit), begnügt er sich auf S. 11 mit wertlosen Hinweisen wie „Jemand hat einmal gesagt“ oder „Wie ein späterer Bruder es etwa ausdrückte“. Im Einleitungsteil seines Vortrages finden sich auch mehrere Selbstzitate, die bereits aus dem Aufsatz „‚Vergadering van Gelovigen‘ – waarheen?“ (1996) oder aus dem Nachtboek van de ziel (1998) bekannt sind (darunter die etwas unbescheiden klingende Aufzählung, in wie vielen Ländern er schon Versammlungen und Konferenzen der „Brüder“ besucht hat). Umgekehrt hat Ouweneel Teile des Wiedenester Vortrags auch für seinen Bode-Artikel und für den Vortrag in Amsterdam am 18. November wiederverwendet.

(2) Das zweite in Wiedenest gehaltene Referat (Bernd Brockhaus über die Elberfelder Bibel) steht in der Buchausgabe an dritter Stelle; vorgezogen wurde der Nachmittagsvortrag von Gerhard Jordy, „Carl Brockhaus: Ein Vater der deutschen Brüderbewegung“ (S. 30–54). Dieser Vortrag bildet in mancher Hinsicht einen Gegensatz zu dem Ouweneels: Er wurde frei gehalten und ist dadurch weniger durchgeformt; im Vordergrund steht die Biografie und nicht die Theologie, und die Grundhaltung des Referenten zu seinem Gegenstand ist ungleich positiver. Da über das Leben von Carl Brockhaus bereits mehrere Veröffentlichungen vorliegen (darunter Die Brüderbewegung in Deutschland von Jordy selbst sowie besonders die maßstabsetzende Monographie Carl Brockhaus – Ein Leben für Gott und die Brüder von Rolf-Edgar Gerlach [auf S. 51 „Rudolf Edgar Gerlach“ genannt]), erfährt man in dieser Hinsicht wenig Neues; interessant ist jedoch der kontinuierliche Vergleich mit dem Leben Darbys, der bemerkenswerte Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten zutage fördert (z.B. Darbys großbürgerliche und Brockhaus’ kleinbürgerliche Herkunft; Darbys schlechtes und Brockhaus’ gutes Verhältnis zu seinem Vater; Bekehrung bei beiden im Alter von 20–21, Heilsgewissheit erst mit 26–27 Jahren usw.). Bei aller theologischen Abhängigkeit von Darby sei Brockhaus doch „ein eigenständiger Denker und Charakter“ gewesen (S. 45); bei ihm habe immer die Evangelisation und nicht die Lehre an erster Stelle gestanden (S. 45f.), er habe die Gläubigentaufe und nicht die Kindertaufe befürwortet (S. 46), und durch seine integrierende Kraft habe er das Übergreifen der meisten englischen Spaltungen auf Deutschland verhindern können (S. 50f.). Dass die deutschen „Brüder“ bis ins 20. Jahrhundert ihre Einheit wahren konnten, sei aber auch auf die unterschiedliche soziale Schichtung zurückzuführen: „In der britischen Brüderbewegung gab es viele Akademiker, die deutsche bestand aus sich emporarbeitendem Kleinbürgertum, das eher geneigt war, den höher gebildeten Führern zu folgen, während Universitätstheologen bekanntermaßen zu den streitbarsten Wissenschaftlern gehören“ (S. 51).

Wie Ouweneel beschließt auch Jordy sein Referat mit einer Aufzählung von Punkten, in denen uns Carl Brockhaus im 21. Jahrhundert noch als Vorbild dienen könne, und interessanterweise steht auch hier die „Liebe zum Wort Gottes“ (bei Ouweneel: „Treue zur Bibel“) an erster Stelle.

Insgesamt strahlt Jordys Vortrag viel mehr Gelassenheit aus als der Ouweneels; da Carl Brockhaus für ihn wohl nie dieselbe theologische Autorität besaß wie Darby früher für Ouweneel, kann er sich seinem Gegenstand ganz unverkrampft nähern und ohne die kämpferische Verbissenheit, die Ouweneels Auseinandersetzung mit Darby oft prägt.

(3) Bernd Brockhaus’ Vortrag „John Nelson Darby und Carl Brockhaus: Die Übersetzung der Elberfelder Bibel“ erhielt für den Druck ebenfalls einen neuen Titel: „Licht und Schatten – John Nelson Darby und die Elberfelder Bibel. Versuch einer Würdigung“ (S. 55–75). Im ersten Teil (S. 56–68) geht der Autor auf die übersetzungstheoretischen Grundlagen der Elberfelder Bibel ein: Als „wörtliche“ Übersetzung bewege sie – wie Schleiermacher es ausdrückte – „den Leser dem Schriftsteller entgegen“ und verlange von ihm, sich mit den „fremden Sprachbildern und Vorstellungen“ des Originals auseinanderzusetzen (S. 61). „Insofern leistet die Elberfelder Bibel einen vielleicht nicht ganz unwichtigen Beitrag zum Thema ‚Priestertum aller Gläubigen‘, da sie das Denken-, Mitdenken- und Nachdenkenwollen, da sie die Bereitschaft zum eigenen theologischen Arbeiten der Gläubigen ernst nimmt“ (S. 62). Die modernen „kommunikativen“ Übersetzungen dagegen ließen den Laien „unmündig“ bleiben, „weil ein Berufstheologe ihm das Verstehen vorweg genommen hat“ (S. 63, Anm.). Auch die Originalsprache des Neuen Testaments sei „keineswegs die gewöhnliche unliterarische Umgangssprache“ damaliger Zeit gewesen, sondern eine „nichtliterarische und nichtklassizistische Fachprosa“ (S. 64). So könne beispielsweise „das Wort sarx ... einem Normalbürger griechischer Zunge im Umkreis der Paulinischen Briefe in vielen und gerade den theologisch wesentlichen Sätzen des Paulus kaum wirklich verständlicher gewesen sein als dem heutigen Bibelleser das deutsche ‚Fleisch‘“ (S. 65, Zitate von Traugott Holtz). Damit hält Brockhaus, der selbst an der Revision der Elberfelder Bibel mitgearbeitet hat, ein im Zeitalter der „dynamisch-gleichwertigen“ Übersetzungen ungewöhnliches, engagiertes Plädoyer für den „wörtlichen“ Übersetzungstyp.

Im zweiten Teil (S. 68–74), der in Wiedenest aus Zeitgründen nicht mehr vorgetragen werden konnte, geht der Autor dann auf eine konkrete Textstelle ein, an der Darby trotz seines grundsätzlichen Bemühens um „Worttreue“ sein exegetisches Vorverständnis in die Übersetzung eingebracht habe. Zu 2Mo 15,2b („dieser ist mein Gott, und ich will ihn verherrlichen“) biete Darby in der Fußnote eine Variante („andere: ihm eine Wohnung machen“), die in keiner anderen Bibelausgabe zu finden sei und nur seinem eigenen theologischen Interesse am Bau der Stiftshütte entspringe. Mit dieser Behauptung schießt Brockhaus freilich weit über sein Ziel hinaus. Die Elberfelder Bibel ist durchaus nicht die einzige Übersetzung, die die genannte Variante bietet; in mindestens drei der Bibelausgaben, die im Elberfelder-Vorwort ausdrücklich als Hilfsmittel erwähnt werden, ist sie ebenfalls enthalten (darunter die englische King James Version, die Darby selbst benutzte!). Wenn Brockhaus Darby unterstellt, er habe diese Lesart bzw. Deutungsvariante selbst erfunden, bezichtigt er ihn letztlich einer offenen Unwahrheit, denn die Fußnote der Elberfelder Bibel sagt ja ausdrücklich, dass „andere“ die betreffende Stelle so verstehen bzw. übersetzen. Aber selbst wenn diese Variante tatsächlich einmalig wäre, könnte man daraus niemals so weitreichende Schlüsse ziehen, wie Brockhaus sie zieht; auch in der Elberfelder Bibel erscheint sie ja nur als mögliche Alternative in einer Fußnote und nicht als bevorzugte Lesart im Text. Insofern ist 2Mo 15,2 als Anlass für die Vorwürfe, die Brockhaus am Ende seines Artikels gegen Darby erhebt, völlig ungeeignet: „... zeigt dies, dass ihm [Darby] nicht immer das demütige Hören und sich Einlassen auf das Wort des Gottes gelungen ist, der in all seiner Demut und Herablassung zu uns doch sein Wort an uns Menschen richten will. Da, wo es um ein theologisches Interesse ging, hat Darby sich an einer Stelle bedauerlicherweise die Freiheit genommen, Gott nicht ausreden zu lassen, hat er es vorgezogen, ‚seine Sprache‘ zu sprechen, statt sich der Herausforderung des Verstehens zu stellen und der Mühe des Lernens einer ‚eigenen Sprache‘ der Bibel, die auch in Ex 15,2 mit ihrer Sprache ihre Sache verkünden will und nicht Darbys Interesse am ‚Heiligtum Jehovas in der Wüste‘“ (S. 74). Brockhaus geht sogar so weit, diese angebliche Eigenmächtigkeit Darbys mit der Vorgehensweise der Neue-Welt-Übersetzung der Zeugen Jehovas auf eine Stufe zu stellen (ebd., Anm.). Wenn man bedenkt, dass es bei alledem nur um eine Fußnote geht, in der auf eine abweichende Entscheidung anderer Übersetzer hingewiesen wird, kann man solche Vorwürfe nur als grotesk bezeichnen.

Neben dieser groben Fehldeutung enthält der Beitrag von Bernd Brockhaus leider auch eine Reihe von Fehlern und Nachlässigkeiten im Detail, besonders in den (an sich verdienstvollen, da bei Ouweneel und Jordy fehlenden) Fußnoten. So wird z.B. in der ersten Fußnote behauptet, das Wiedenester Darby-Symposion habe am 6. Mai stattgefunden (richtig: 13. Mai; vgl. die unmittelbar vorausgehende Seite 54!). In Fußnote 5 werden als Beispiele für Anglizismen in der Erstausgabe des Elberfelder NT die Verlaufsform „am Klopfen“ (Apg 12,16) und die Schreibweise „Egypten“ angeführt; tatsächlich ist die Verlaufsform eine völlig normale Ausdrucksmöglichkeit der (west-)deutschen Umgangssprache, und die Schreibung „Egypten“ war im 19. Jahrhundert auch im deutschen Sprachraum noch durchaus gebräuchlich. Fußnote 17 datiert die modernisierte Neuausgabe der Lutherbibel auf das Jahr 1977; richtig wäre 1975. In Fußnote 31 wird die Abkürzung „LXX“ erklärt, obwohl diese bereits elf Seiten vorher zum ersten Mal vorkam. Auf das Aufzeigen von Rechtschreibfehlern möchte ich hier verzichten; hingewiesen sei nur auf die mehrmals vorkommende Schreibung „Posek“ (statt „Poseck“).

(4) Die letzten 16 Seiten des Buches enthalten Auszüge aus der Fragenbeantwortung Ouweneels sowie aus der abschließenden Podiumsdiskussion, an der neben Ouweneel und Jordy Hans Jochen Timmerbeil, Karl-Heinz Vanheiden und Andreas Liese sowie als Moderator Hartwig Schnurr teilnahmen (die Behauptung auf S. 76, dass sich auch Bernd Brockhaus und Stephan Holthaus daran beteiligt hätten, trifft nicht zu). Hans Jochen Timmerbeil berichtet über seine persönlichen Lektüreerfahrungen mit Darby (S. 78f.); Andreas Liese und Gerhard Jordy analysieren das Verhältnis der „Brüder“ zum Nationalsozialismus und zur Politik allgemein (S. 80–83); Willem J. Ouweneel und Karl-Heinz Vanheiden stellen Überlegungen darüber an, wie ein Mittelweg zwischen Zentralismus und Independentismus gefunden werden kann (S. 84–86). In einer „Schlussrunde“ äußern die Diskussionsteilnehmer dann ihre Hoffnungen und Wünsche für die Zukunft der Brüderbewegung (S. 88–91). Gerhard Jordy ruft dazu auf, mehr aufeinander zuzugehen; Hans Jochen Timmerbeil plädiert für einen breiten Gedankenaustausch zwischen den Leitern bibeltreuer Gemeinden; Karl-Heinz Vanheiden warnt vor einem Abgleiten ins Sektierertum; Andreas Liese hofft, dass die „Brüder“ aus den Fehlern ihrer Geschichte lernen können; Willem J. Ouweneel fordert ein „Zurück zur Schrift“ – auch um den Preis, dass lieb gewordene „Brüder“-Gewohnheiten aufgegeben werden müssen: „Die Brüderbewegung an sich ist nicht wichtig. Was wichtig ist, sind Christus und das Wort Gottes. Wir müssen uns unter seine Autorität beugen und das Wort neu studieren“ (S. 91).

Für den Druck wurden die Diskussionsbeiträge selbstverständlich sprachlich überarbeitet, sodass sich gewisse Abweichungen zwischen den Kassettenaufnahmen und dem gedruckten Buch ergeben; an einigen Stellen (insbesondere in den Beiträgen Ouweneels) haben sich jedoch auch sinnentstellende Fehler eingeschlichen, die teilweise auf ungenauem Hinhören, teilweise aber auch auf unzureichender Sachkenntnis der Transkribenten beruhen dürften. Ich möchte hier zumindest drei Beispiele anführen. Auf S. 77 wird die Entstehung der Brüderbewegung in das „postillonitische Zeitalter“ eingeordnet; tatsächlich sagte Ouweneel „postnapoleontisch“ – ein von ihm häufig zu hörender Niederlandismus, den der Transkribent wahrscheinlich nicht verstand. Auf S. 80 ist von den „Betrachtungen über das Wort Gottes, über die Synopsis“ die Rede (Hervorhebung von mir); die falsche Einfügung eines zweiten „über“ zeigt, dass der Transkribent das Wort „Synopsis“ offenbar nicht als Werktitel identifizieren konnte. Auf S. 85 wird Ouweneel mit den Worten zitiert: „Ich sage das so ein bisschen schwarz-weiß. Das macht es manchmal etwas komplizierter.“ In Wirklichkeit hatte er gesagt: „Es ist manchmal ein bisschen komplizierter“, was im gegebenen Kontext genau das Gegenteil bedeutete. Solche Fehler hätten sich durch genaueres Abhören der Tonbänder und gründlicheres Korrekturlesen vermeiden lassen, wie man sich überhaupt ein etwas sorgfältigeres Lektorat gewünscht hätte.

Zum Abschluss sei noch darauf hingewiesen, dass aus der Fragenbeantwortung Ouweneels nur ein einziger Beitrag aufgenommen wurde (S. 76–78); manche besonders provokante Äußerungen, z.B. über „exklusive“ Evangelisationen, erscheinen daher in der gedruckten Ausgabe nicht. Auf Ouweneel selbst dürften diese Streichungen nicht zurückgehen, denn er hatte während der Diskussion furchtlos verkündet: „Ich schäme mich auch nicht, wenn das über Kassetten durch Deutschland geht.“

Michael Schneider

[zuerst in: Mailingliste APOLLOS, 19. Dezember 2000; leicht überarbeitet]

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