Rezension


Andreas Liese:
verboten – geduldet – verfolgt
Die nationalsozialistische Religionspolitik gegenüber der Brüderbewegung

edition Wiedenest
Hammerbrücke (Jota Publikationen) 2002
642 Seiten. ISBN 3-935707-12-6. € 35,00


Auf eine Darstellung der Brüderbewegung im Dritten Reich hat man lange warten müssen. Nachdem in fast allen Freikirchen schon seit längerer Zeit Monographien über ihre Haltung im und zum Dritten Reich erschienen sind, liegt nun mit der profanhistorischen Berliner Dissertation von Andreas Liese aus Bielefeld endlich auch ein Beitrag für die Brüderbewegung vor. Liese untersucht dabei nicht in erster Linie die Haltung der Brüderbewegung zum Nationalsozialismus, sondern geht den umgekehrten Weg: Er fragt nach der Einschätzung der „Brüder“ durch den nationalsozialistischen Staat und bietet damit ein exemplarisches Beispiel für dessen Umgang mit kleinen Religionsgemeinschaften. Anhand von vielen Originaldokumenten der staatlichen Behörden ergibt sich dadurch ein neues und spannendes Bild der Auseinandersetzungen der Versammlungen im totalitären Staat.

Eine der Kernfragen bilden die Hintergründe des Versammlungsverbots im Jahre 1937 und der Wiederzulassung als Bund freikirchlicher Christen – eines einmaligen Vorgangs im Umfeld der Freikirchen und religiösen Gemeinschaften im Dritten Reich. Liese kann nachweisen, dass das Verbot der „Christlichen Versammlung“ 1937 nach unterschiedlichen Einschätzungen verschiedener Behörden und einem unglaublichen Kompetenzwirrwarr des Staates allein aus ideologischen Gründen („staats- und lebensverneinend“) ausgesprochen wurde. Man glaubte, die Brüderbewegung würde den NS-Staat aus prinzipiellen Gründen ablehnen, und beargwöhnte die fehlenden Strukturen. Als man sich nach mehreren Gesprächen mit leitenden Brüdern von der pro-nationalistischen Haltung überzeugen ließ, wollte man das Verbot trotzdem nicht zurücknehmen, sondern erlaubte nur die Gründung einer neuen registrierten Religionsgemeinschaft unter der Leitung eines Reichsbeauftragten, eben die Gründung des Bundes freikirchlicher Christen (BfC). Die desolate innere Situation der Brüderbewegung begünstigte diese Turbulenzen des Jahres 1937 und ließ zudem einen Mythos vom „Verbot als Strafgericht Gottes“ entstehen.

Diese „geistliche“ Interpretation des Verbots wurde von Reformkräften um Dr. Hans Becker, dem alleinigen Bevollmächtigten des neuen Bundes, geschickt genutzt und unter Zwang den Gemeinden aufoktroyiert. Die staatlichen Repressalien wurden somit einseitig gedeutet, um eine schon früher von Becker angemahnte theologische Kursänderung vorzunehmen und damit die eigentlich negativen Zwangsmaßnahmen noch positiv umzudeuten. Mitglieder des neuen BfC durften nur Personen werden, die „auf dem Boden des Nationalsozialismus“ standen – eine regimekritische Funktion des Bundes war damit auch in Zukunft nicht zu erwarten. Ziel Beckers war dabei letztlich sogar der Bund aller Christen außerhalb der Landeskirchen, womit sich die spätere Verbindung mit den Baptisten im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden schon 1937 andeutete. Vereinigungsideen wurden zur gleichen Zeit auch von den Baptisten geäußert, fanden 1937 jedoch noch keine Mehrheit. Die Vereinigung des BfC mit den „Offenen Brüdern“, die nicht unter das Verbot fielen, erfolgte dagegen schon Ende 1937.

Liese kann trotz allgemein vorherrschender Politikdistanz der Brüderbewegung die positive Haltung aller Brüdergruppen zum Führer und zum NS-Staat nachweisen. Nur vereinzelt ortet er Gegner des Nationalsozialismus. Ebenso wird deutlich, wie lücken- und fehlerhaft die Informationen des Innenministeriums, des Sicherheitsdienstes und der Gestapo über die Brüderbewegung waren und wie unterschiedlich diese Stellen die Versammlungen beurteilten. Öfter ließ man sich durch die Namensvielfalt der Bewegung verwirren und registrierte die gleichen Versammlungen mehrfach. Zudem belegt der Autor ein interessantes Detail, nämlich die Kontakte zwischen Staat und Brüderbewegung vor 1937, und widerlegt damit die bisherige Einschätzung einer Funkstille in den ersten Jahren des NS-Staates. Örtlich kam es interessanterweise auch schon vor 1937 zu erheblichen Schwierigkeiten mit den Behörden (Literaturbeschlagnahmungen, Sammlungsverbote), ohne dass man dadurch den Opportunismus gegenüber dem Staat aufgegeben hätte.

Wer sich außerhalb des Bundes ab 1937 als „Nichtbündler“ traf, gelangte in die Illegalität und wurde auch unter Mithilfe des BfC diffamiert und teilweise sogar verfolgt. Die Brüderbewegung war damit die einzige der kleinen freikirchlichen Religionsgemeinschaften, in denen es zwei unterschiedliche Haltungen gegenüber dem NS-Staat gab: eine dem Staat konforme und eine „illegale“, die vom Staat bekämpft wurde. Die bisher fast unbekannte Geschichte der Nichtbündler wird bei Liese erstmalig ausführlich dargestellt. Der Autor räumt bei aller Bewunderung für diese Gruppe aber mit dem Mythos auf, ihre Anhänger hätten dem NS-Staat offensiv widerstanden. Im Gegenteil: Liese zeigt auf, dass trotz ihrer konspirativen Versammlungen auch hier eine starke Anpassung an NS-Gedankengut vorherrschte.

Liese macht zudem deutlich, dass die kleineren Religionsgemeinschaften im Dritten Reich keineswegs schutzlos dem allmächtigen Staat ausgeliefert waren, sondern durch persönliche Beziehungen sehr wohl Freiheiten erlangen konnten. Das Überleben im NS-Staat hatte aber seinen Preis: Die Loyalität zur Führung war aus Dankbarkeit für die Genehmigung, wieder Versammlungen halten zu dürfen, innerhalb des BfC sehr groß. Von politischen Äußerungen hielt man sich in Zukunft zurück. Die Auflagen der Gestapo waren bis in die Einzelheiten identisch mit den Vorüberlegungen des Mustergaues Warthegau, in dem die nationalsozialistische Religionspolitik Anfang der 40er Jahre ideal umgesetzt werden sollte. An eine oppositionelle Schlagkraft gegen das Regime war dabei nicht mehr zu denken.

Zusätzlich ist es innerhalb der Brüderbewegung zu keiner biblisch-theologischen Durchdringung des Verhältnisses von Versammlung und Staat gekommen, sodass man auch keine Leitlinien für die politische Ethik ins Feld führen konnte. Diese theologischen Defizite, angestoßen durch die Absonderungslehre, verstärkten die Hilflosigkeit im Dritten Reich.

Der Autor hat viele bisher unbekannte Dokumente der Nazis herangezogen, um seine Thesen zu belegen. Seine Untersuchung bringt manche bisher unbekannte Details aus der Geschichte einzelner Versammlungen ans Licht und kann so auch für den Lokalhistoriker von Interesse sein. Für alle an der Geschichte der Brüderbewegung Interessierten dürfte dieses Monumentalwerk Pflichtlektüre sein. Sie zeigt, dass auch biblisch begründete Bewegungen vor Verführungen nicht sicher sind.

Stephan Holthaus

[zuerst erschienen in: Perspektive 6/2003, S. 20f.]

Lesen Sie zu diesem Buch auch unser Interview mit dem Autor.


Links zu weiteren Rezensionen dieses Buches:
• Thomas Schirrmacher in Bibel und Gemeinde 4/2003
• Peter Baake in Zeit & Schrift 1/2004

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