Interview mit Dr. Berthold Schwarz

Berthold Schwarz wurde 1963 in Marburg geboren. Er studierte 1984–90 an den Universitäten Marburg und Erlangen Evangelische Theologie, absolvierte 1991–93 sein Vikariat und wurde anschließend zum Pfarrer ordiniert. 1993–95 studierte er an der Universität Tübingen als Voraussetzung zur Promotion noch vier weitere Semester Theologie. 1995–2002 war er Missionar der Marburger Mission (1997–2000 in Japan), danach setzte er seine Doktoralstudien an der Universität Erlangen fort. Seit 2003 ist er Dozent für Systematische Theologie an der Freien Theologischen Akademie (jetzt Freie Theologische Hochschule) in Gießen, seit 2004 dort auch Leiter des Instituts für Israelogie. 2007 wurde er in Erlangen mit seiner Arbeit „Leben im Sieg Christi. Die Bedeutung von Gesetz und Gnade für das Leben des Christen in der dispensationalistischen Schau John Nelson Darbys. Ein ökumenisch-theologischer Beitrag zum Verstehen der Theologie der Brüderbewegung im interkonfessionellen Dialog“ zum Dr. theol. promoviert (Buchausgabe 2008 im Brunnen-Verlag, Gießen). Berthold Schwarz gehört der Freien evangelischen Gemeinde in Gießen an.

Im folgenden Interview erläutert er Hintergründe und Ergebnisse seiner Forschungsarbeit über John Nelson Darby.


Persönliche Hintergründe

Frage: Du bist nicht in der Brüderbewegung aufgewachsen. Wann ist dir der Name John Nelson Darby zum ersten Mal begegnet, und was hat dich an Darby so interessiert, dass du beschlossen hast, dich intensiver mit ihm auseinanderzusetzen?

Schwarz: Als Teenager bin ich mit Christen aus dem CVJM und aus dem Pietismus in Kontakt gekommen, die hartnäckig versuchten, mich zu evangelisieren, weil ich damals noch nicht gläubig war. Einer meiner damaligen Freunde gehörte der Brüderbewegung an, und auch er nahm mich intensiv „in die Mangel“. Ich versuchte damals, tugendhaft zu leben, aber mein Freund meinte, Tugendhaftigkeit bringe mich nicht in den Himmel. Er erzählte mir, dass man an Christus glauben und sein Leben mit ihm führen müsse. In diesem Zusammenhang hörte ich dann auch zum ersten Mal den Namen John Nelson Darby. Als ich durch diese Einflüsse später zum Glauben gekommen war, habe ich mich noch einmal ausführlicher damit beschäftigt, wo genau der Unterschied liegt zwischen Darby und dem, was ich im kirchlichen Kontext gehört hatte.

Frage: Wie kam es dann zu deiner Entscheidung, Darby zum Thema einer Doktorarbeit zu machen?

Schwarz: Als ich mich auf die Missionsarbeit vorbereitete, wurde mir empfohlen, wenn ich schon an der Universität studiert hätte, sollte ich mich möglichst akademisch weiterqualifizieren. Ich habe dann überlegt, ob das auch in meinem Sinne wäre. An sich hätte mich eine Doktorarbeit im Bereich Neues Testament am meisten gereizt, aber hier kann man natürlich auf Schritt und Tritt in die Fettnäpfchen treten, die die historisch-kritische Methode bereithält. Deswegen habe ich dann nach einem Thema gesucht, das wissenschaftlich bearbeitbar, aber nicht so verfänglich ist. Und da stieß ich irgendwann auf das Thema, das mich seit meiner Bekehrung und auch schon davor immer wieder beschäftigt hatte, nämlich die Frage: Welche Bedeutung haben Gesetz und Gnade für das Leben des Christen? Was heißt es, „in Christus zu sein“? Ich habe dann angefangen, Darbys Position hierzu von den Quellen her aufzuarbeiten, um herauszufinden, ob das ein wissenschaftlich relevantes und lohnendes Thema sein könnte.

Frage: Und dabei ist dir dann aufgefallen, dass gerade dieses Thema in der Darby-Forschung noch nicht intensiv bearbeitet worden war?

Schwarz: Zuerst hatte ich die Befürchtung, dass es schon abgehandelt worden wäre. Es gibt da zwei wissenschaftliche Arbeiten zu Darby, eine über sein Verständnis vom Heiligen Geist und eine über seine Heiligungslehre, in denen verschiedene Teilbereiche der Erlösungslehre gestreift werden. Aber weil sie aus dem amerikanischen Kontext kommen, steht die Frage, die die typisch deutsche oder die reformatorische Theologie an das Thema stellt, nämlich „Welche Rolle spielt das Gesetz im Leben des Christen?“ (tertius usus legis), nicht so im Zentrum. Dadurch wurde mir klar, dass das durchaus ein relevantes Thema war, das von Darbys Schriften her noch nicht so aufgearbeitet worden war, wie es für den deutschsprachigen Kontext nötig wäre.

Frage: War es schwierig, an einer deutschen Universität einen Doktorvater für ein solches Thema zu finden?

Schwarz: Ich hatte erst mal verschiedene Leute im Blick und habe mich dann für den Bereich der Ökumenischen Theologie in Tübingen entschieden, vor allem weil dort theologisch eine eher konservative Richtung vertreten wurde. Später bin ich dann nach Erlangen zu dem schottischen Professor Alasdair Heron gewechselt, der sich in der britischen Theologie und Theologiegeschichte sehr gut auskennt und auch Darby am Rande kannte. Dadurch ist mein Thema dann von der Ökumenischen Theologie, die das breite Feld der verschiedenen Konfessionen behandelt, in der Dogmatik gelandet. Dieser Wechsel hat auch dazu geführt, dass die Arbeit einen umfangreichen theologiegeschichtlichen Teil bekommen hat, weil mein Doktorvater sagte: Briten trennen nicht immer so säuberlich zwischen Dogmatik und Theologiegeschichte wie die Deutschen; sie interessieren sich auch für die geschichtlichen Traditionen bei der Lehrbildung. In gewisser Weise wurde meine Arbeit also ein Kompromissbeitrag zwischen Dogmatik und Theologiegeschichte.

Frage: Hat man als „externer“, nicht der Brüderbewegung angehörender Forscher einen objektiveren Zugang zu Darby, oder ist es für eine solche Arbeit nützlich, die Brüderbewegung „von innen“ zu kennen?

Schwarz: Ich würde sagen, beides hat seine Vor- und Nachteile. Wenn man von außen kommt, kann man die Quellen sachlich und unvoreingenommen studieren, ohne emotionale Bindung, die einen vielleicht davor zurückscheuen lässt, zu Ende zu denken, was man entdeckt hat. Für jemand, der in seiner Biografie tief in der Brüderbewegung verankert ist, besteht die Gefahr, dass er die Dinge nur noch so sehen kann, wie „man“ sie sieht oder wie man gewohnt ist, sie sehen zu sollen. Auf der anderen Seite habe ich als von außen Kommender den Nachteil, dass ich die Brüderbewegung zwar über die Jahre durch Konferenzen, Besuche in Gemeinden und Gespräche mit Brüdern kennengelernt habe, mir aber möglicherweise der Praxisvollzug fern bleibt, weil ich ihn nicht erlebt habe. Wie die Versammlungen auf ihre Mitglieder gewirkt haben, welche positiven oder negativen Auswirkungen die Forderung nach einem bestimmten Verhalten auf die Gläubigen gehabt hat, das kann ich nur durch Erzählungen nachvollziehen, aber nicht aus eigener Erfahrung. Deshalb ist es gut, wenn Leute aus der Bewegung selbst genauso ihre Forschungsbeiträge liefern wie jemand, der von außen kommt. Beides kann sich sinnvoll ergänzen, und gewisse Verzerrungen können dadurch ausgeglichen werden.


Dispensationalismus

Frage: Deine Dissertation behandelt, wie es im ursprünglichen Untertitel heißt, „die Bedeutung von Gesetz und Gnade für das Leben des Christen in der dispensationalistischen Schau John Nelson Darbys“. Bevor du zum Thema „Gesetz und Gnade“ kommst, setzt du dich ausführlich mit dem Dispensationalismus auseinander. Wie kann man Dispensationalismus definieren? Was macht aus deiner Sicht das Wesen des Dispensationalismus aus?

Schwarz: Ich würde da drei Punkte nennen:

  1. Das Bemühen um literale, historisch-grammatische Schriftauslegung. Das, was als Endgestalt des Textes mit seinem jeweiligen Adressaten konkret vorliegt, spielt die zentrale Rolle. Es wird also kein theologisches Grundgerüst vorgeschaltet, das festlegt, wie bestimmte Stellen aus christlicher oder kirchlicher Sicht zu interpretieren sind, sondern der historische Literalsinn ist das Entscheidende.
  2. Die Dichotomie, also die Unterscheidung zwischen Israel und der Gemeinde. Biblische Texte werden daraufhin befragt, ob sie Israel oder die Gemeinde adressieren.
  3. Die Einteilung der Heilsgeschichte in Epochen (dispensations), in denen die Verantwortung des Menschen vor Gott jeweils unterschiedlich sein kann, sodass bestimmte Dinge für Gläubige in der nachfolgenden Dispensation noch gelten können, andere aber auch nicht mehr.

Frage: War Darby der Begründer des Dispensationalismus, oder konnte er auf Vorläufer zurückgreifen?

Schwarz: Heilsgeschichtlich hat man auch zu anderen Zeiten schon gedacht. Sogar der Begriff dispensation kommt bereits in der reformierten Tradition vor, z.B. im Westminster-Bekenntnis von 1647, wo er für heilsgeschichtliche Bundesabschnitte steht (die allerdings noch nichts mit dem Dispensationalismus im späteren Sinne zu tun haben). Für das, was im 19. Jahrhundert unter Darby als Dispensationalismus bekannt geworden ist, gibt es aber etliche historische Vorläufer, die Details oder Einzelaussagen schon gelehrt haben. Besonders der englische Puritanismus hat eine ganze Menge dazu beigetragen. Zu einem Konzept oder zu einer gesamttheologischen Ausrichtung hat Darby das aber erst in den 1830er Jahren werden lassen.

Frage: Allerdings hat Darby sein Konzept ja nie so systematisch dargelegt, wie es später z.B. Scofield auf der Grundlage Darbys getan hat. Gibt es dafür eine Erklärung?

Schwarz: Ich glaube, Darby war kein Scofield und hätte auch kein Scofield sein wollen. Für ihn war es am wichtigsten, dass die verschiedenen Perioden verschiedene Anwendungen zur Folge haben, dass man also z.B. nicht Aussagen, die Israel betreffen, ohne weiteres Hinterfragen auf die Gemeinde beziehen darf. Aber eine Kategorisierung, die zu einem starren System wird, entspricht wohl nicht dem Gedanken, den er bei der Entdeckung der Dispensationen in der Schrift hatte. Das war nicht sein Anliegen. Die Gefahr bei Scofield ist, dass man sieben Kategorien wahrnimmt, diese starr überträgt und zu einem rationalistischen System umformuliert. Damit soll Scofield nicht abgewertet werden, er hat eine wichtige und gute Arbeit geleistet für seine Zeit, aber die Gefahr besteht schon, dass man nur noch in diesen Kategorien denkt und damit die Lebendigkeit des Schriftzeugnisses ein Stück weit verliert. Das ist bei Darby so meiner Ansicht nach nicht wahrnehmbar – er bleibt da wesentlich flexibler.

Frage: Viele Dispensationalisten, besonders im deutschsprachigen Raum, wissen überhaupt nicht, dass sie Dispensationalisten sind. Sie glauben, sie würden einfach nur den Bibeltext lesen, und merken gar nicht, dass sie dabei eine hermeneutische Brille benutzen, die ihnen in der Gemeinde vermittelt wurde. Ging Darby ebenso „naiv“ an die Bibel heran, oder war er sich der Tatsache bewusst, dass er eine Hermeneutik entworfen hatte, die seine Exegese bestimmte?

Schwarz: Ich habe in Darbys Schriften nichts Konkretes gefunden, ob er auf der Meta-Ebene darüber reflektiert hat. Sein Grundansatz war der Gehorsam gegenüber Gott, und von diesem Grundansatz her hat er die Bibel gelesen. Dabei stellte er fest, dass Gott in einer bestimmten Zeit bestimmte Anweisungen gab, in einer anderen Zeit dagegen andere. Darby nahm also Unterschiede wahr, so wie man das z.B. auch in der Synopsis beschrieben findet, und fragte sich, was diese Unterschiede bedeuten. Er ging vom praktischen Beobachten der Schrift aus und zog dann seine Schlussfolgerungen. In späteren Schriften, wo nicht mehr der Weg beschrieben wurde, wie Darby dahin gekommen war, sondern nur noch die Ergebnisse, konnte es dann dazu kommen, dass man Dinge aus Gewohnheit nur noch so las, wie man sie bereits im Ergebnis kennengelernt hatte. Das gilt natürlich auch für die Versammlungen selber: Das „System“ verselbständigte sich, sodass man sich nicht mehr Rechenschaft darüber ablegte, wie es entstanden war. Aber bei Darby selbst ist doch an vielen Stellen noch wahrnehmbar, dass er bemüht war zu hören, zu beobachten, und daraus seine Schlüsse zog. Man sieht ja auch, dass er in den 1830er und 1840er Jahren durchaus noch fähig war, Dinge zu modifizieren. Ich will damit nicht sagen, dass es einen „frühen“, einen „mittleren“ oder einen „späten“ Darby gab, wie man das bei Luther oder Calvin teilweise formuliert, aber es gibt schon Entwicklungen hin zu einer präziseren Ausformulierung von angedachten Konzepten. Und da ist Darby ein typischer Vertreter seiner Zeit, der nicht dogmatische Endprodukte liefern will, sondern im Hören auf die Schrift wiedergeben will, was da steht.

Frage: In den USA wird der Dispensationalismus besonders von calvinistischer Seite stark angegriffen (Gerstner, Mathison usw.), was sich inzwischen auch auf Deutschland zu übertragen scheint. Sind Dispensationalismus und Calvinismus tatsächlich unvereinbare Gegensätze? Wie stand Darby zum Calvinismus?

Schwarz: Bei aller Kritik, die Darby an den großen Reformatoren Luther und Calvin geübt hat, hat er doch an vielen ihrer Grundeinsichten festgehalten, z.B. in der Frage nach der Gnade, nach der Erlösung durch Christus, nach der Qualität der Ehre Gottes usw. In der klassischen puritanisch-calvinistischen Tradition steht Darby auch mit seinem Gebundensein an Gottes Wort, seinem Wunsch, ihm bis zum i-Pünktchen zu folgen (während sich der Anglikanismus mehr moderat und mild entwickelt hat). Selbst in der Eschatologie gibt es Berührungspunkte: Die Forschungen von W.J. van Asselt haben gezeigt, dass es auch in der reformierten Tradition – in Verbindung mit dem Bundesdenken – Epochenmodelle der heilsgeschichtlichen Entwicklung gegeben hat, wenn auch nicht mit den gleichen Konsequenzen wie bei Darby. In der Neuzeit kann es 5-Punkte-Calvinisten geben, die trotzdem Prämillennialisten sind (als Prä- oder Posttribulationisten) oder andere eschatologische Vorstellungen des Dispensationalismus vertreten. Da wird der Dispensationalismus also nicht zum Überbau für eine bestimmte Konfession, sondern er ist letztlich transkonfessionell. Ein großes Problem für Calvinisten ist allerdings die Trennung zwischen Israel und der Gemeinde als hermeneutischer Schlüssel für die Auslegung der Schrift. Hier gehen Gerstner und andere Reformierte dem Dispensationalismus bis heute an den Kragen – bis hin zu dem Vorwurf, das sei ein falsches Evangelium.

Frage: Du bezeichnest Darbys „Betonung der jeweiligen Empfänger eines biblischen Textes“ als „ungewohnt“ (S. 578) und als „nicht immer auf Anhieb und auch nicht immer eindeutig für nicht eingeweihte Bibelleser bestimmbar“ (S. 554). Ist die Frage nach dem Empfänger nicht für jede Exegese zentral?

Schwarz: Die wissenschaftliche Exegese, ob liberal oder konservativ, hat tatsächlich immer danach gefragt, wer der eigentliche Adressat ist. Das ist unbestritten eine Grundfrage. Im kirchlichen, frommen Raum gibt es diese Herangehensweise aber oft nicht, jedenfalls nicht in der Praxis. Das kommt teilweise vom Pietismus her, teilweise aber auch aus der reformierten Tradition. Man kennt das vom Losungsbüchlein der Zinzendorf’schen Richtung, das ganze Generationen geprägt hat, oder aus dem württembergischen oder dem halleschen Pietismus: Die Bibel wurde gelesen und dann ohne Zwischenschritt auf den aktuellen Leser bezogen – „Der Herr spricht zu mir“, „Der Herr hat mir gesagt“ usw. Das war gar nicht böse gemeint, sondern man war bereit, auf Gott zu hören, und die Schrift war das Wort Gottes, das einen direkt adressierte, auch wenn es eigentlich an Naaman oder an Johannes den Täufer oder an wen auch immer gerichtet war. Die Anwendung war sofort: Was bedeutet es für mich? Um das zu vermeiden, wird in der moderneren pietistischen Tradition schon in Jungscharstunden oder in der Mitarbeiterschulung immer dieser Schritt dazwischengesetzt: Was steht da? Was bedeutete es damals? Und was bedeutet es in der Anwendung? Bengel hat das auch schon so gemacht, aber das war nicht unbedingt traditionsprägend für seine und die nachfolgende Zeit. In der reformierten Tradition gibt es das sogar bis heute, selbst in der wissenschaftlichen Theologie: Da wird auf der einen Seite exegetisch herausgearbeitet, dass der Adressat z.B. Israel oder Adam ist, aber auf der anderen Seite wird ein Psalmtext, ein Lobpreis, eine Ermahnung 1:1 auf die kirchliche Situation im Hier und Heute übertragen, als würde da stehen: „Die Gemeinde in XY soll das befolgen“ – obwohl da ganz eindeutig Israel in der königlichen Zeit unter Saul gemeint ist oder wer auch immer. Es ist deswegen nicht selbstverständlich, dass Darby zu seiner Zeit, in seinem Frömmigkeitskontext, der ja gar nicht der wissenschaftlichen Theologie entsprach, diesen Unterschied so stark betont hat. Er legt großen Wert darauf, genau hinzusehen, was dasteht, und dann im Sinne der reformatorischen Erkenntnis Schrift mit Schrift auszulegen. Im Alten Testament hat er dabei häufig den Akzent der Typologie, die er aber nicht einfach auf alles überträgt – dann landet man schnell bei der Allegorese und macht aus jedem Bildwort und aus jeder übertragbaren Illustration sofort ein im Literalsinn zu verstehendes Dogma –, sondern bei ihm konzentriert sich die Typologie oft zunächst einmal auf Christus und von dort her dann auf die Gemeinde, sodass 2. Timotheus 3,16 wirklich flächendeckend auf die ganze Schrift angewendet werden kann: Alle Schrift, Altes und Neues Testament, dient zur Lehre, zur Erbauung usw. In diesem Punkt macht er also keinen Unterschied; nur wenn es um Lehrbildung geht oder um konkrete Anweisungen, die vom Bibeltext abgeleitet werden, da differenziert er. Alle Schrift ist für alle Christen gegeben, aber wir müssen innerhalb der Schrift unterscheiden, um nicht Lehren zu formulieren, die für Christen gar nicht gelten.


Gesetz und Gnade

Frage: Das Hauptthema deiner Dissertation ist „Gesetz und Gnade im Leben des Christen“. Welche Rolle spielt nach Darby das mosaische Gesetz für den Christen?

Schwarz: Zunächst einmal ist das Gesetz natürlich im Sinne von Römer 7,12 „heilig, gerecht und gut“. Es ist von Gott gegeben und daher Wort Gottes. Seine Bedeutung ist in keiner Weise zu minimieren. Allerdings ist das Gesetz eine zur Dispensation Israels gehörende Instanz, die Israel in einer bestimmten Zeit, 430 Jahre nach der Verheißung an Abraham, gegeben wurde, die aber gleichzeitig terminiert ist. Mit dem Kommen Christi hat dieser heilige, gute, gottgemäße Auftrag des Gesetzes eine Terminierung erfahren. Nicht das Gesetz an sich ist terminiert, sondern seine Anwendung auf das Leben des Christen. Das Gesetz hatte eine vorübergehende, auf Israel bezogene heilsgeschichtliche Bedeutung, die der Gemeinde Jesu so nicht gilt – wie es die paulinische Perspektive und besonders der Römerbrief darstellt.

Frage: Gilt das auch für die Zehn Gebote, die in der Christenheit ja nach wie vor eine zentrale Rolle spielen?

Schwarz: Darby argumentiert häufig in der Auseinandersetzung mit der anglikanischen bzw. reformierten Position, wo davon die Rede ist, dass man das Gesetz in wenigstens zwei Teile teilen könne: in das Zeremonialgesetz, das mit Christus abgetan sei (alles, was mit levitischem Priesterdienst, Opferkult usw. zu tun hat), und in das Moralgesetz, das weiterhin gültig sei. Diese Unterscheidung wird im nachreformatorischen Calvinismus vor allem in der Bundestheologie vertreten. Gegen diese breite Tradition, die in England zu seiner Zeit vorherrschte, wendet Darby sich, indem er sagt: Das Gesetz ist ein Ganzes, das man nicht in ein moral law und ein ceremonial law teilen kann. Es ist in seiner zeremoniellen wie in seiner moralischen Qualität von Gott gegeben und nicht trennbar. Damit fallen die Zehn Gebote auch mit unter die Terminierung.

Frage: Sind Dispensationalisten deswegen Antinomisten, wie ihnen manchmal vorgeworfen wird?

Schwarz: Nein. Darby meint ja nicht, dass das, was das Gesetz oder die Zehn Gebote inhaltlich aussagen, aufgehört hätte, sondern er sagt: Das Gesetz als Machtinstrument hat aufgehört, als Ordnungsschema, das mich verpflichtet, auf diesem Weg die Qualität der Gottesbeziehung zu bestimmen. Das Gesetz bringt mich dazu, meine Sündhaftigkeit und meine Übertretungen wahrzunehmen, aber es gibt mir keine Kraft, es einzuhalten, die Gebote auch zu befolgen. In diesem Sinne, in seiner Wirkung als Machtfaktor, hat das Gesetz aufgehört. Darby unterscheidet aber zwischen dem Gesetz und dem Willen Gottes, der immer heilig, gerecht und gut bleibt und natürlich niemals aufhört. Wer sagen würde, dass man nach Darby ruhig ehebrechen oder stehlen dürfe, würde ihn völlig falsch interpretieren. Das weist Darby weit von sich, und es ist absurd, so etwas mit ihm in Verbindung zu bringen. Das eigentliche Missverständnis des Antinomismusvorwurfs liegt darin, dass diese Differenzierung zwischen dem Gesetz und dem Willen Gottes nicht getroffen wird. Sobald jemand die Zehn Gebote – oder das Gesetz überhaupt – nicht als verpflichtende moralische Größe für den Christen gelten lässt, wird ihm sofort das Etikett „Antinomist“ aufgeklebt, „gegen das Gesetz“ – und damit meint man dann in letzter Konsequenz, dass der Betreffende dem Willen Gottes nicht gehorchen, sich nicht an Gottes Willen binden will, sondern so leben will, wie er möchte. Im Grunde ist das also eine Art Libertinismusvorwurf. Aber das ist völlig absurd und bei Darby auch nirgendwo zu finden.

Frage: Ein anderer Einwand gegen den Dispensationalismus lautet, er lehre zwei Wege zum Heil: in der Dispensation Israels das Halten des Gesetzes, in der heutigen Zeit der Glaube bzw. Gottes Gnade. Ist diese Kritik berechtigt?

Schwarz: Wie ich in meiner Dissertation versucht habe herauszuarbeiten, sieht Darby vom Anfang bis zum Ende eine Kontinuität darin, dass der Mensch immer aus Gnade und aus Glauben gerettet wird. Darby sagt nirgendwo, das Gesetz sei zum Heil gegeben worden oder durch die Einhaltung des Gesetzes habe man Heil gewinnen können, sondern die Gnade, dass Gott sich dem Sünder zuwendet, und die „Reaktion“ des Menschen in Form von Glauben und Vertrauen auf das, was Gott zusagt, das war nach Darby auch im alttestamentlichen Kontext der Weg zum Heil. Nur das Objekt des jeweiligen Glaubens, also woran zu einer bestimmten Zeit geglaubt wird, woran überhaupt geglaubt werden kann, was Gott offenbart hat, das unterscheidet sich und kulminiert dann schließlich in Christus. Vorher glaubten die Menschen sozusagen im Vorgriff an ein Heil, das sie noch nicht kennen konnten, das noch nicht da war, das aber nur durch Christus geschenkt werden konnte.

Frage: Dass Christen nicht mehr unter dem mosaischen Gesetz stehen, würde vielleicht auch mancher Nichtdispensationalist bejahen. Nach Darby ist aber sogar die Bergpredigt, die für die meisten Christen ja eine unantastbare normative Bedeutung hat, nicht in erster Linie an Christen gerichtet. Wie begründet er das?

Schwarz: Wie gesagt, für Darby ist alle Schrift nach dem Grundsatz z.B. von 2. Timotheus 3,16 auf uns anwendbar, also auch die Bergpredigt. Er schreibt deshalb in der Synopsis nicht: „Matthäus 5–7 gilt nicht für die Versammlung, also machen wir mit Kapitel 8 weiter“, sondern er schreibt durchaus, was aus der Bergpredigt sinnvoll und praktisch auf die Gläubigen der Gemeinde angewendet werden kann. In der konkreten Analyse und Beobachtung dieser Kapitel stellt er allerdings fest, dass hier der König sein Reich vorstellt und die Verhaltensrichtlinien, die darin gelten. Und wer ist der Adressat? Israel. Natürlich hatte die jüdische Tradition das alttestamentlich verheißene Reich Gottes auf andere Weise erwartet, so wie es z.B. die Emmausjünger in Lukas 24 sagen: „Wir dachten aber, er würde kommen und uns von den Römern befreien.“ Die Reich-Gottes-Botschaft des Herrn Jesus war teilweise ganz anders und deshalb auch für die Juden etwas Neues und Befremdliches. Wegen ihrer Herzenshärte konnte das Reich dann nicht vollendet werden; das wird erst nach der Wiederkunft Christi im Tausendjährigen Reich geschehen. Dann werden die ethischen Anweisungen der Bergpredigt ihre endzeitliche Gültigkeit demonstrieren, weil es sich dabei um das „Grundgesetz“ für das Verhalten in der Gottesherrschaft unter dem Königtum Christi handelt.

Frage: Bedeutet das, wie Kritiker dem Dispensationalismus manchmal unterstellen, dass die Juden das Reich Gottes damals auch hätten annehmen können, sodass Christus gar nicht hätte sterben müssen?

Schwarz: Nein. Darby betont ganz stark, dass Christus kam, um zu leiden, am Kreuz zu sterben und aufzuerstehen, wie es in Philipper 2,5–11 beschrieben wird. Es war die ganz bewusste Absicht und verpflichtende Zielsetzung der Menschwerdung des Sohnes, als Lamm Gottes sein Leben am Kreuz hinzugeben, um Sünder zu retten und sie mit Gott zu versöhnen. Diese Voraussetzung muss auch für die Aufrichtung des Reiches selbst erfüllt sein, weil die Versöhnung die unmittelbare Grundlage dafür bildet, dem Reich Gottes anzugehören. Während die Reich-Gottes-Verkündigung zur Zeit der irdischen Wirksamkeit Jesu noch auf das Kreuz vorausschaut, blickt die Gemeinde immer zurück auf das, was am Kreuz geschehen ist. Und auch im Tausendjährigen Reich wird ja vom Lamm geredet, das geschlachtet wurde. Die Grundlage für die Reich-Gottes-Hoffnung, auch für das irdische Israel, muss also im Kreuz zu suchen sein und ist ohne das Kreuz nicht denkbar (auf Darbys differenziertes Verständnis vom Reich Gottes im Unterschied zum Himmelreich, zum paulinischen Evangelium usw. kann ich hier nicht im Einzelnen eingehen). Dass die Zeit der Gemeinde jetzt „eingeschoben“ wurde, ist kein „heilsgeschichtlicher Unfall“, wie Kritiker manchmal behaupten. Es gibt ja auch eine ganze Menge Reich-Gottes-Gesichtspunkte, die auch auf die Gemeinde angewendet werden, z.B. Römer 14,17: „Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geist.“ An solchen Stellen geht es nach Darby darum, dass die Privilegien des Reiches Gottes, die Israel gelten, in einer verborgenen Weise auch in der Gemeinde schon aktiv sind, dass sich die Herrschaft Christi dort in einer irdisch nicht sichtbaren Weise realisiert. Die eigentliche irdische Verwirklichung kommt nach Darby aber erst im Tausendjährigen Reich.

Frage: Das zentrale Konzept Darbys, das du auch zum Titel deiner Arbeit gemacht hast, siehst du im „Leben im Sieg Christi“. Was meint Darby damit?

Schwarz: Für mich ist das eins der schönsten und wunderbarsten Ergebnisse, die die Arbeit ans Licht gebracht hat. Der Titel mag in Darbys Schriften nicht auf Schritt und Tritt vorkommen – er taucht im Englischen in ähnlicher Form an einer Handvoll Stellen auf –, aber ich habe ihn als Zusammenfassung einer Wahrheit verwendet, die Darby sehr stark betont. Es geht um das, was man später in der Tradition der Brüderbewegung und auch bis in die heutige Literatur hinein als Unterscheidung zwischen „Stellung“ und „Zustand“ (standing und state/walk) findet. In der wissenschaftlichen Theologie wird das mit den Begriffen „Indikativ“ und „Imperativ“ beschrieben: einerseits das, was man ist aufgrund dessen, was Christus getan hat, und andererseits das, was man tut im praktischen Lebenswandel. Der entscheidende Akzent bei Darby liegt darin, dass der Sieg Christi am Kreuz, sein „Es ist vollbracht“ im Sinne von „Der Sieg ist errungen“, die Grundlage ist, auf der der Christ sein Leben führt – nicht aufgrund seiner ethisch-moralischen Qualifikation als Mensch, der jetzt endlich den Willen Gottes tun kann, sondern er lebt in dem, was Christus getan hat. „Lebe, was du bist!“ – aber das „bist“ ist bei Darby so stark im Mittelpunkt, dass man über diesen christozentrischen Aspekt eigentlich nur staunen und sich freuen kann: Der Gläubige darf auf Christus blicken, er darf ihn anbeten und von ihm alles erwarten, und daraus folgt dann erst der Lebenswandel. In der Frömmigkeit anderer Epochen hat man zwar auch gerne auf das Werk Christi geschaut, aber zugleich oft ganz stark betont, dass der eigene Lebenswandel, die eigene Heiligung mich sozusagen im Heil hält. Ich bin zwar aus Gnade gerettet, aber damit ich im Heil bleibe, muss ich entsprechend leben. Das findet man bei Darby so nicht, sondern für ihn ruht alles, auch der ganze Lebenswandel, auf dem Sieg Christi. Natürlich sagt Darby auch: Wenn du nicht entsprechend lebst, muss man Konsequenzen ziehen, denn die Reinheit der Gemeinde ist verbindlich. Aber das hat zunächst einmal nichts mit einem Verlust des Heils zu tun oder mit einem Verlust dessen, was Christus für einen erworben hat. Diese Perspektive hat mich von Anfang an fasziniert, seit ich über diese Frage mit dem Freund aus Jugendtagen diskutiert habe.

Frage: Das Thema war für dich also nicht nur von wissenschaftlichem Interesse, sondern hatte auch eine unmittelbare biografische Relevanz.

Schwarz: Auf jeden Fall. Als ich zum Glauben gekommen war, wollte ich gerne dem Herrn Jesus gehorsam sein, aber ich merkte sehr schnell, dass ich an den Ansprüchen, die Gottes Wort an mich stellte, immer wieder scheiterte. Dadurch brachen ständig Fragen und Selbstzweifel in mir auf: Bin ich wirklich bekehrt? Was ist überhaupt Christsein? Wie kann ich das jemals erfüllen, was der Herr mir im Wort Gottes vor Augen malt und was ich zum Teil sogar mutwillig übertrete? Es war ein immerwährendes Auf und Ab zwischen der Freude an Jesus und dem, was er für mich getan hat, und der Enttäuschung über den eigenen Lebenswandel. In dieser Situation waren für mich die Antwortmöglichkeiten, die ich in den Gesprächen mit dem erwähnten Bruder heraushörte, nämlich dass ich nicht auf meinen Lebenswandel schauen sollte, sondern auf das, was Christus für mich getan hat, eine echte Herausforderung. Aus dem Studium wusste ich, dass Luther es ähnlich formuliert hat, aber bei ihm bleibt es ein lebenslanger Auf-und-Ab-Prozess: Täglich krieche ich zurück in die Taufe, d.h. täglich mache ich mir bewusst, dass das Gesetz mich straft, weil ich es nicht erfülle, aber ich darf mich immer wieder ins Evangelium bergen, das mir Trost zuspricht. Mich hatte dieses Auf und Ab völlig demoralisiert, deshalb war Darbys Antwort – dass man in dem ruht, was Christus getan hat, aber trotzdem nicht gleichgültig, gesetzlos oder libertinistisch in den Alltag hineinlebt, sondern sich von dieser Geborgenheit in Christus zum Leben motivieren lässt – für mich etwas, das mich biografisch sehr stark beruhigt, befreit, getröstet, ermutigt, in vielfältiger Hinsicht in meinem Christsein bereichert hat. Das hing unter anderem auch mit der Auslegung von Römer 7,1–6 zusammen, denn mir wurde deutlich, dass diese Stelle viel zu schnell nach einem gewissen Gewohnheitsmuster ausgelegt wird. Es steht eindeutig da, dass das Gesetz weiterhin gültig ist, dass es seine machtvolle, heilige Qualität weiterhin ausübt. Aber das gilt nicht für mich, denn ich bin tot! Ich bin jetzt verheiratet mit Christus. Diesen Unterschied zu sehen, entweder unter dem Gesetz zu sein oder unter der Gnade, und das als bleibende Qualität, das war für mich schon ein Durchbruch. Nicht mehr dieses Hin und Her – einmal unter der Gnade, einmal unter dem Gesetz –, sondern stets unter der Gnade! Dann bin ich ein Heiliger, der sündigt, aber nicht mehr einer, der ständig in Gewissensqualen leben muss, ob er jetzt gerettet ist oder nicht, und sich ständig Sorgen machen muss, ob seine Heiligung wirklich ausreicht, um ihn „im Heil zu halten“. Natürlich braucht der Christ Zerbruch, damit er nicht überheblich und eingebildet wird, als hätte er es schon geschafft und einen Zustand der Sündlosigkeit erreicht. Solche Vorstellungen lehnte Darby völlig ab, wie z.B. seine klar positionierte Auseinandersetzung mit Pearsall Smith zeigt. Aber dass der Gläubige im Sieg Christi leben darf, diese Befreiung empfinde ich als so wertvoll, dass man sie heutzutage gar nicht genug wertschätzen und betonen kann.

Frage: Trotz dieser befreienden Botschaft wird mit dem Namen Darby, wie es auf dem Klappentext deines Buches heißt, oft „Enge“, „Strenge“ und „Gesetzlichkeit“ assoziiert, und auch die Brüderbewegung wurde „in der Öffentlichkeit nicht durch ihre Gnaden- oder Christuslehre, sondern – im Gegenteil – primär durch ihre teilweise rigoristische Gesetzlichkeit und bornierte ‚Enge‘ bekannt“ (S. 412). Woran liegt das?

Schwarz: Diese Entwicklung begann spätestens in den 1840er Jahren, als Darby von der Schweiz zurückkehrte. In den ersten Versammlungen in Dublin oder in England herrschte noch der Erneuerungswille vor: „Wir versammeln uns im Namen des Herrn“, und da war von Exklusivität oder Trennung von kirchlichen Denominationen noch nicht die Rede. Aber schon 1836 stellte Groves fest, dass sich eine gewisse Einseitigkeit breitgemacht hatte, die möglicherweise mit einer von Darby geforderten Rigorosität des Verhaltens zu tun hatte: Trennung von allem, was nicht der Reinheit entspricht oder der Einheit entgegensteht. Das scheint mir ein Punkt zu sein, wo Darbys Gnadenlehre – die sich meiner Ansicht nach nie verändert hat! – in der Praxis verdunkelt wurde, weil die unbedingte „Einheit in Reinheit“ in den Mittelpunkt rückte, die nur durch „Trennung vom Bösen“ realisierbar erschien. Das Wort „Böses“ (evil) wurde dann immer mehr zu einer Chiffre, in die alle möglichen Attribute hineinkamen, die am Anfang noch gar nicht so gesehen worden waren. Zuerst sah man das evil in der Laschheit der Christen in der anglikanischen Kirche, im Methodismus oder wo auch immer, aber später war es schon evil, wenn man auch nur Anteil an einer verfassten kirchlichen Organisation hatte oder sich mit Angehörigen kirchlicher Denominationen versammelte. Mit solchen Gläubigen konnte man sich dann nicht mehr brüderlich an einen Tisch setzen. Solche Entwicklungen haben möglicherweise dazu geführt, dass die großartige Betonung der Gnade in Christus in der Praxis ein Stück weit unter die Räder kam, was dann gemeindliche Enge zur Folge hatte.

Frage: Im Zusammenhang damit sprichst du in deiner Arbeit von „‚frömmelnder Äußerlichkeit‘ in pedantischer Befolgung religiöser oder religiös verstandener Verordnungen und Regeln mit dem ‚Anspruch auf allgemeine Gültigkeit‘ und der Erwartung des ‚absoluten Gehorsams‘ mit großer Ernsthaftigkeit unter den Nachfolgern“ (S. 566). An welche Regeln denkst du da beispielsweise?

Schwarz: Das gilt eigentlich nicht nur für die Brüderbewegung, sondern auch für viele andere Frömmigkeitsbewegungen, in denen man einen gewissen Rigorismus in Bezug auf Äußerlichkeiten sieht: Darf man ein Theater besuchen? Darf man Alkohol trinken? Darf man wählen gehen? Soll man sich in die Kultur integrieren? usw. Solche Fragen sind gut gemeint – wir sollen uns ja von der Welt fernhalten, das ist ein Imperativ der Bibel –, aber vielleicht wurde da manchmal das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, indem „Welt“ vor allem mit Äußerlichkeiten in Verbindung gebracht wurde. Man muss sich heute fragen: Ist das für einen Christen, der in der Freiheit lebt und sich zugleich im Gehorsam an Gottes Wort bindet, wirklich notwendig? Ist da das Wort „Welt“ bzw. „Weltlichkeit“ wirklich richtig verstanden worden? Oft wohl nicht. Man muss unterscheiden zwischen

Wir sollten versuchen, die heutige Praxis wieder neu an solchen paulinischen Vorgaben zu orientieren.


Würdigung

Frage: Worin liegt die bleibende Bedeutung Darbys?

Schwarz: Während der Vorbereitung meiner Doktorarbeit und auch noch nach deren Abschluss hatte ich mehrmals Gelegenheit, in Brüdergemeinden zu sprechen. Dabei fiel mir auf, auch im Gespräch mit einzelnen Personen, dass oft ein ziemlich gespaltenes Verhältnis zu Darby besteht – nicht jeder will auf Darby angesprochen werden! Als jemand, der von außen kommt, verstehe ich das teilweise nicht. Sicher hatte Darby seine Schwächen, er war kein fehlerloser Mensch, er war auch kein inspirierter Reformator der Kirche, er hat sich in manchen Lehr- und Praxisfragen ganz offensichtlich geirrt, aber er hat wesentliche Punkte der Schriftauslegung ans Licht gebracht, vertieft und betont, über die weder die Brüderbewegung noch die Christenheit insgesamt leichtfertig hinweggehen sollte. Ich denke da an das erwähnte Verhältnis zwischen der Stellung in Christus und dem Lebenswandel, an Darbys Liebe zu Christus, die in seinen Schriften und Briefen immer wieder zum Ausdruck kommt, an seinen Wunsch, Gemeinde nach dem Vorbild der Bibel zu gestalten usw. – es gibt viele Aspekte, die zu würdigen sind und die man nicht über Bord werfen darf, auch wenn man andere Punkte kritisiert. Darby bleibt bis heute ein wichtiges Korrektiv, wenn versucht wird, den Christusbezug durch etwas anderes zu ersetzen, sei es durch Pragmatismus, durch Geschäftigkeit, durch Frömmigkeit oder durch eine evangelisch akzentuierte Werkgerechtigkeit, die am Leben im Sieg Christi vorbeigeht.

Frage: Welche Empfehlung würdest du der Brüderbewegung heute geben?

Schwarz: Luther sagte einmal sinngemäß: „Lest nicht mich, sondern lest die Schrift. Wer ist schon Luther? Ein alter Madensack.“ Auch wenn Darby das nicht so formuliert hat, sehe ich im Grunde doch seinen Dienst insgesamt so. Lest die Schrift und das, was dort geschrieben ist über das Heil in Christus, über die Unterschiede zwischen Israel und der Gemeinde. Seid selbstbewusst, dass das wirklich Wahrheiten sind, die man heutzutage im Christentum ins Gespräch bringen muss. Verkriecht euch nicht damit, sondern versucht diese Wahrheiten auch anderen Christen zu vermitteln, die es noch nicht so sehen. Denn nicht alles ist sofort allen Christen klar, nur weil es einer mal gesagt hat. Manchmal braucht man Anleitung, um bestimmte Zusammenhänge zu verstehen, so wie es auch bei Apollos im Gespräch mit Priska und Aquila der Fall war. Das ist oft ein mühsamer Prozess des geduldigen Vorwärtsgehens. Es genügt nicht, einfach etwas zu postulieren, denn dann kann sich der andere leicht brüskiert fühlen, sondern man muss sich die Mühe machen zu zeigen, wie man dahin gekommen ist, warum man das so vertritt und warum das von der Schrift her so zu sehen ist. Es darf auch nicht der Eindruck entstehen, dass das überflüssige Streitgespräche und Haarspaltereien sind, sondern es müssen gewinnende Gespräche sein mit dem Ziel, Wahrheiten verständlicher zu machen, die andere einfach noch nicht sehen. Zugleich sollten die „Brüder“ demütig akzeptieren, dass auch sie in Lehr- und Lebensfragen gelegentlich den „Apollos“ verkörpern, der Rat und Korrektur von „Priska und Aquila“ (d.h. von Christen aus anderen Denominationen) nötig hat.

Frage: Was können die „Brüder“ von anderen Gemeinderichtungen lernen?

Schwarz: Die Brüderbewegung betont mit Recht die „Absonderung vom Bösen“ – die Schrift sagt ja ganz klar, dass wir „von der Ungerechtigkeit abstehen“ sollen (2. Timotheus 2,19). Nur stellt sich die Frage, ob die Anwendung solcher Bibelworte auf konkrete Personen und Situationen in jedem Fall wirklich berechtigt ist und ob „Absonderung“ unbedingt zur Exklusivität oder zu einem rigorosen Absolutismus führen muss. Ich meine Nein. Vielleicht sind ja auch die anderen Christen nicht ganz an der Wahrheit vorbeigesegelt, wenn sie eine gewisse Offenheit und Zugewandtheit im Miteinander aller Gläubigen aus der Bibel ableiten. Von diesen Mitchristen könnte die Brüderbewegung lernen, wie man an der Wahrheit festhalten und zugleich das Gespräch miteinander suchen kann – ohne sich damit zu kompromittieren, sich anzupassen oder sich mit dem „Bösen“ zu infizieren. Eigentlich ist das genau das, was auch Darby und die anderen „Brüder“ am Anfang der Bewegung betont haben, was aber später in der Praxis leider oft nicht mehr so verwirklicht wurde. Ich habe am Ende meiner Dissertation drei Zitate von Darby angeführt (hier in deutscher Übersetzung):

Das ist ein schöner Punkt, den die Brüderbewegung heute von anderen wieder neu lernen könnte: die zu lieben, die auch Christus lieben, ohne dass man deswegen auch auf ihren Wegen wandeln muss, die vielleicht wirklich falsch sind.

Frage: Im originalen Untertitel deiner Arbeit bezeichnest du sie als „ökumenisch-theologischen Beitrag“. Das Wort „ökumenisch“ könnte bei manchen Lesern Irritationen auslösen, weil sie dabei zuerst an den Ökumenischen Rat der Kirchen denken. Was meinst du damit?

Schwarz: Mit dem Ökumenischen Rat der Kirchen hat das nichts zu tun, sondern es geht um den griechischen Originalbegriff oikoumene. Zu neutestamentlicher Zeit war das die bewohnte Welt, im heutigen theologischen Sprachgebrauch ist es die weltweite Christenheit, die sich – in welcher Form auch immer – zu Christus bekennt. Dazu gehört auch die Brüderbewegung. Die ökumenische Theologie untersucht, welchen Beitrag die verschiedenen Konfessionen und Bewegungen zur Gesamtchristenheit leisten. Im Falle der Brüderbewegung kann dieser Beitrag z.B. das sein, was Darby herausgearbeitet hat und was in der Brüderbewegung auch heute noch von Bedeutung ist. Das kann die Gesamtchristenheit bereichern.

Frage: Ist das auch ein Ziel deiner Arbeit – Darby in die allgemeine theologische Diskussion einzubringen?

Schwarz: Ja, unbedingt! Die Theologie hat sich schon mit allen möglichen abstrusen Figuren der Kirchengeschichte beschäftigt. Dass John Nelson Darby – der ganz bestimmt nicht zu den abstrusen, sondern zu den wichtigen Figuren der Christenheit gehört! – bis heute weitgehend übersehen wird, ist bei dem wertvollen Schatz, den er theologisch zur Sprache gebracht hat, einfach ein Unding. Besonders die deutschsprachige Theologie kennt sich im Grunde kaum mit den theologischen Akzenten, die die Brüderbewegung gesetzt hat, aus. Die Frömmigkeitsebene kennt man vielleicht schon eher, wenn man vor Ort mit Brüdergemeinden zu tun hat. Aber da kann es auch zu Karikaturen und Verzeichnungen kommen, weil nicht unbedingt alle Vertreter der verschiedenen Denominationen besonders verständnisvoll miteinander umgehen und weil die „Brüder“ selbst nicht selten an ihrem „schlechten öffentlichen Image“ mitgewirkt haben (was ja eigentlich nicht sein müsste). Das alles darf aber nicht ausschließen, dass eine konstruktiv-kritische Würdigung Darbys auf allen Ebenen geschieht, auch auf der wissenschaftlich-theologischen. Und dazu möchte meine Arbeit einen Beitrag leisten.

bruederbewegung.de: Vielen Dank für das Gespräch!


Die Fragen stellte Michael Schneider. Das Interview wurde am 23. Februar 2009 in Gießen geführt.
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