Aus der Übersetzerwerkstatt

Dr. Ulrich Brockhaus (Wuppertal-Elberfeld, 18. November 2005)


Wir alle wissen: Sprache lebt, Sprache entwickelt sich, und das heißt auch: Sprache verändert sich. Wenn ich an die Wörter und Redewendungen denke, die meine Kinder vor 20 Jahren aus der Schule mitbrachten, und wenn ich dann daran denke, dass diese Wörter und Redewendungen von damals heute zum Teil auch schon wieder veraltet sind („out“, wie man sagt – auch so ein neues Wort), spätestens dann wird mir klar: Sprache verändert sich.

Das hat natürlich auch Auswirkungen auf eine Übersetzung und damit auch auf eine Bibelübersetzung. Nehmen wir einmal an, es gäbe die perfekte Bibelübersetzung – wir wissen, es gibt sie nicht, aber nehmen wir es ruhig einmal an –, dann wäre sie in zehn Jahren mit Sicherheit nicht mehr perfekt, einfach deshalb, weil sich die Zielsprache, also die Sprache, in die übersetzt wird, inzwischen verändert hat. Und wenn das schon bei zehn Jahren der Fall ist, trifft das nach über 100 Jahren natürlich umso mehr zu.

Genau das war die Situation, vor der die für die Elberfelder Bibel Verantwortlichen in den 1950er Jahren, also vor etwa 50 Jahren, standen. Die Elberfelder Bibel war zwar bekannt, sie hatte einen guten Ruf als genaue Bibelübersetzung – das haben wir ja schon gehört –, aber wer sie las, stieß immer wieder auf veraltete Wörter, die entweder unbekannt waren (jedenfalls den Jüngeren) oder inzwischen eine etwas andere Bedeutung angenommen hatten als zur Zeit der ersten Übersetzer. Nur ein Beispiel: Das Wort „Weib“, das um 1850 noch relativ bedeutungsneutral war, hatte um 1950 inzwischen eine abfällige – die Philologen sagen: pejorative – Bedeutung bekommen. Und so war das Ziel der Revision, die 1959 ins Werk gesetzt wurde, klar: veraltete und unverständlich gewordene Wörter zu ersetzen, sprachliche Härten zu mildern. Mit einem Wort: bessere Verständlichkeit.

Mit diesem Hauptziel begann im Jahre 1960 die Revision. Aber schon bald wurde deutlich, dass das so einfach nicht war. Einfach Wörter auszuwechseln reichte nicht. Denn erstens stehen diese Wörter ja immer in einem Zusammenhang, und den kann man nicht einfach auswechseln, sondern man muss ihn neu übersetzen; zweitens lag an vielen Stellen inzwischen ein besserer, d.h. originalerer und zuverlässigerer griechischer und hebräischer Grundtext vor. Ältere Handschriften waren entdeckt worden, z.B. die berühmten Qumran-Schriften, die man 1947 und 1948 in der Nähe des Toten Meeres in Höhlen gefunden hatte und die einerseits den hebräischen Text des Alten Testaments auf eindrucksvolle Weise bestätigten, andererseits aber eben auch einige ursprünglichere Lesarten enthielten und somit Änderungen der Übersetzung nötig machten. An vielen Stellen musste also neu übersetzt werden. Und so wurde die Revision schließlich doch eine Art Generalüberholung der Übersetzung und dauerte insgesamt – auch das hatte man sich am Anfang nicht so gedacht – 25 Jahre: 1960 hatte man angefangen, 1985 lag die revidierte Bibel mit Altem und Neuem Testament vor (das Neue Testament wurde zuerst übersetzt).

Ich selbst wurde 1966 in die Kommission berufen – damals noch als Student – und habe dann 19 Jahre daran mitgearbeitet. Ich denke gern an diese Zeit zurück, unter anderem an die Abende auf unseren Klausurtagungen in Oberdorp (bei Hückeswagen), wenn etwa Pfarrer Steiner aus den dreißiger Jahren erzählte, wie er als geheimer Kurier der Bekennenden Kirche immer mit dem Nachtzug von Barmen nach Berlin gefahren war, bis die Gestapo irgendwann dahinter kam und es nicht mehr möglich war. Diese Erzählungen waren spannend, und an diesen Abenden geschah etwas, das nicht nur philologische Arbeit war, sondern menschliches und geistliches Zusammenwachsen. Jeden Monat hatten wir eine solche Klausur – das war ziemlich viel, jedes Mal drei Tage –, wo die Bibelkommission zusammenkam und das jeweils vorbereitete Stück durchsprach und fertig stellte.

Bei dieser Revisions- und Übersetzungsarbeit war eins eigenartig: Wir hatten keine schriftlichen Richtlinien. Die Übersetzungsprinzipien der Elberfelder Bibel – Gerhard Jordy hat eben einige genannt – standen zwar fest, und sie waren auch nicht strittig (wir haben meines Wissens in all den 19 Jahren, in denen ich dabei war, nie darüber diskutiert), aber es gab sie nicht schriftlich. Wie eigenartig das war, wird mir eigentlich erst im Nachhinein richtig klar. Da arbeiten acht Leute jahrelang an einer Übersetzung, und es gibt keine schriftlichen Richtlinien. Und doch ist man sich im Prinzip einig. Sicher nicht in jedem Einzelfall – da gab es Diskussionen, manchmal sogar recht lebhafte –, aber über die Grundprinzipien waren wir uns einig.

Den zentralen Grundsatz könnte man etwa auf folgende Formel bringen: So nah am Grundtext wie möglich, ohne gegen die Regeln der deutschen Sprache zu verstoßen. Das war ja auch das Prinzip der alten Übersetzer; daran hatte sich also nichts geändert.

Natürlich gab es auch Einzelprinzipien – eine ganze Menge sogar –, aber nicht in Form einer schriftlichen Richtlinie. Ich möchte abschließend nur zwei dieser Grundsätze oder Prinzipien der Elberfelder Bibel herausgreifen, die eben auch Prinzipien der Revision waren.

Erstens: Bilder und Metaphern müssen in der Übersetzung in jedem Fall erhalten bleiben.

Die Bibel ist ja reich an sprachlichen Bildern, und unsere deutsche Sprache wimmelt nur so von bildhaften Redensarten, die aus der Bibel stammen. Da wirft man Perlen nicht vor die Säue, stellt sein Licht nicht unter den Scheffel, sieht oft den Balken im eigenen Auge nicht, dafür umso genauer den Splitter im Auge des anderen, die Ersten sind manchmal die Letzten, und der Prophet gilt nichts im eigenen Vaterland. Manche dieser biblischen Ausdrücke stehen sogar in den deutschen Wörterbüchern, so etwa die „Hiobsbotschaft“. Diese biblischen Bilder sind aus der deutschen Sprache nicht wegzudenken. Nur beim Übersetzen der Bibel meidet man sie neuerdings – nicht immer, aber manchmal. So hat eine bekannte deutsche Bibelübersetzung etwa das Bild vom Splitter im Auge des Bruders und vom Balken im eigenen, das Jesus in Matthäus 7,3 gebraucht, einfach ausgemerzt und die Stelle folgendermaßen übersetzt:

„Du regst dich auf über die kleinen Schwächen deines Bruders und erkennst nicht deine eigene, viel größere Schuld.“

Das ist natürlich sinngemäß richtig, aber das Bild vom Splitter im Auge ist verloren gegangen. Zugegeben: Dies ist ein extremes Beispiel, und fairerweise muss man hinzufügen, dass die für diese Bibel Verantwortlichen – ich nenne sie jetzt nicht – die Stelle in der letzten Auflage vor drei Jahren zurückrevidiert haben. Man hat das also als Fehler oder als übersetzerische Grenzüberschreitung erkannt und korrigiert. Aber auch wenn es oft nicht so weit geht: Hunderte von Bildern und Metaphern sind in neueren deutschen Bibelübersetzungen verloren gegangen, oder schärfer ausgedrückt: von den Übersetzern unterschlagen worden. Ich erinnere nur an das häufige Bild vom Joch als Zeichen der Dienstbarkeit und Abhängigkeit. Ich könnte jetzt Beispiele nennen, aber das muss ich mir, nicht zuletzt aus Zeitgründen, verkneifen. Der Grundsatz der Elberfelder Bibel und auch der Revision war jedenfalls: Bilder und Metaphern bleiben erhalten.

Zweitens: Es darf kein Wort des Grundtextes ausgelassen und es darf keins hinzugefügt werden.

Das Auslassen ist – jedenfalls in deutschen Übersetzungen – normalerweise keine so große Gefahr, wohl aber das Hinzufügen. Ein Beispiel kann das verdeutlichen. Die bekannte Stelle Römer 1,17 lautet in der revidierten Elberfelder Bibel:

„Denn Gottes Gerechtigkeit wird darin geoffenbart aus Glauben zu Glauben, wie geschrieben steht: ‚Der Gerechte aber wird aus Glauben leben.‘“

Ähnlich haben es auch die revidierte Lutherbibel und die Einheitsübersetzung; hier steht die Elberfelder also nicht allein. In einer bekannten freieren deutschen Bibelübersetzung dagegen lautet der gleiche Vers folgendermaßen:

„In der Guten Nachricht macht Gott seine Gerechtigkeit offenbar: seine rettende Treue, die selbst für das aufkommt, was er vom Menschen fordert. Nur auf den vertrauenden Glauben kommt es an, und alle sind zu solchem Glauben aufgerufen. So steht es ja in den Heiligen Schriften: ‚Wer durch vertrauenden Glauben vor Gott als gerecht gilt, wird leben.‘“

Das ist ein Beispiel dafür, wie verschieden zwei Übersetzungen des gleichen Grundtextes ausfallen können. In dieser bekannten deutschen Übersetzung hat der Vers 55 Wörter; in der Elberfelder Bibel sind es 20 Wörter, im griechischen Originaltext 18. Natürlich ist eine deutsche Übersetzung immer etwas länger als der griechische bzw. hebräische Grundtext; das liegt an den längeren Flexionsformen, etwa in der Konjugation der Verben, also an der Struktur der deutschen Sprache. Aber wenn eine Übersetzung 50 oder gar 100 Prozent länger ist als das Original – und in dem eben genannten Beispiel sind es sogar 205 Prozent mehr, also insgesamt mehr als das Dreifache an Umfang –, ist das nicht mehr Übersetzung, sondern eigentlich bereits Auslegung. Nun ist Auslegung natürlich auch wichtig, denn der andere soll ja die im Bibeltext an ihn ergehende Anrede Gottes verstehen, aber das ist etwas anderes als Übersetzen. Das ist eben Interpretation.

Das Übersetzen ist bescheidener, schlichter, in gewisser Weise handwerklicher als das Auslegen. Insofern ist das Thema, das man mir heute Abend gestellt hat, recht treffend formuliert: „Aus der Übersetzerwerkstatt“. Es ist eine Werkstatt, denn Übersetzen ist gewissermaßen Handwerk. Es wird zwar mit dem Kopf gemacht, aber es ist trotzdem mit dem Handwerk vergleichbar – eine Art philologisches Handwerk. Der Maßstab, an dem man eine Übersetzung messen kann, ist dementsprechend auch nicht so sehr sprachliche Eleganz oder Schönheit, auch nicht Eingängigkeit, sondern saubere, zuverlässige Übertragungsarbeit. Darum haben wir uns bei der Revision bemüht.

Damit wäre ich eigentlich am Ende dessen, was ich hier zu sagen habe. Aber gerade weil es um die Übersetzerwerkstatt geht und damit auch um die, die in dieser Werkstatt gearbeitet haben, möchte ich einmal dem Mann danken, ohne den die revidierte Elberfelder Bibel nicht das wäre, was sie ist: meinem Vetter Bernd Brockhaus. Bernd Brockhaus ist viele Jahre der Sekretär der Bibelkommission gewesen; er hat mit großer Sachkenntnis und Sorgfalt die Vorlagen erstellt, die wir dann jeweils in den monatlichen Klausurtagungen durchgearbeitet und verabschiedet haben. Hätten wir diese Vorarbeiten nicht gehabt, wäre die Revision möglicherweise heute noch nicht fertig. Darum bin ich auch sehr froh, dass Bernd bei der Überarbeitung, die wir in den letzten drei Jahren vorgenommen haben, wieder mit dabei war, und ich möchte ihm an dieser Stelle einmal ganz herzlich danken.

StartseiteThemenElberfelder Bibel > 150 Jahre > Brockhaus


© 2006 by bruederbewegung.de · Letzte Änderung: Samstag, 24. Dezember 2016