Gottes Weg mit der Brüderbewegung

Vortrag von Stephan Holthaus (Dillenburg, 18. Oktober 2003)


1. Einleitung1

Verehrte Festgäste, liebe Schwestern und Brüder,

dass wir hier und heute zusammengekommen sind, um der Geschichte Gottes mit unserer Bewegung zu gedenken, ist nicht selbstverständlich. Im Vorfeld dieses Tages habe ich manche Bedenken von ernst zu nehmenden Brüdern gehört, die den Sinn dieses Tages nicht nachvollziehen konnten. Lassen Sie mich deshalb das Besondere und den Sinn unseres Tages am Anfang meines Vortrages ausführlich in den Blick nehmen.


1.1. Zum Sinn dieses Tages

Brüdergemeinden sind nicht dafür berühmt geworden, viel zu feiern, erst recht nicht sich selbst und ihre eigene Geschichte. Mir ist nicht bekannt, dass die deutsche Brüderbewegung ihr 50. oder 100. Jubiläum groß begangen hätte. Darin zeigt sich schon ein Wesenskern der Brüder: Es geht ihnen um Gott und sein Wirken im Hier und Jetzt, nicht um die eigenen Leistungen der Vergangenheit. Brüdergemeinden sind wie viele andere aus der Erweckungstradition herkommende Bewegungen eher gegenwartsorientierte Gemeinden, denen es um die Rettung der Verlorenen und das innere Wachstum der Gemeinde im Heute geht, nicht um rückwärtsgewandte Erinnerungsfeiern.

Nun zeigt schon das Programm dieses Tages, dass wir keineswegs eine rauschende Feier angesetzt haben. Zudem wollen wir nicht nur den Blick zurückwerfen. Jubiläumstage sind keine Heldengedenktage, sondern vielmehr Wegmarkierungen für die Gegenwart und Zukunft. So wird es heute nicht nur diesen Vortrag eines Kirchengeschichtlers geben, sondern auch Vorträge zu den großen Themen und Herausforderungen im Hier und Jetzt. Es geht nicht darum, dass wir uns heute selber auf die Schulter klopfen. Es geht um etwas ganz anderes: Wir wollen uns heute freuen an den Wegen Gottes mit unserer Bewegung und ihm dafür danken. Wir wollen aber auch nachdenklich werden über Fehler und Versäumnisse in unserer Geschichte und Gegenwart. Nichts mehr und nichts weniger möchte dieser Tag.


1.2. Zur Einstellung der Brüdergemeinden zur eigenen Geschichte

Dafür ist der Blick in die Vergangenheit wichtig.2 Denn nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Fehler der Väter vermeiden. Nur wer die Geschichte der Brüderversammlungen kennt, kann sie heute richtig verstehen. Nur wer den Blick zurück wagt, kann die Gegenwart und Zukunft besser bewältigen. Kirchengeschichte ist immer das Gespräch der Gegenwart mit der Vergangenheit über die Zukunft. Die Geschichtslosigkeit der Moderne ist dagegen eine riesige Gefahr, denn sie verführt zu dem Denken, dass die Geschichte mit jedem Einzelnen neu beginnt, und zu einer ungeheuren Selbstüberhebung unserer Zeitgenossen. Der Blick in die Geschichte macht dagegen demütig. Und er motiviert und ermutigt, denn die Väter und Mütter des Glaubens können jedem persönlich als Vorbild und positiver Anstoß dienen. Deshalb ist dieser Tag wichtig.

Allerdings hätte er um ein Haar nicht stattgefunden, wäre sogar vielleicht vergessen worden. Es ist ziemlich genau zwei Jahre her, als ich auf der in dieser Halle stattfindenden Dillenburger Konferenz einen Versuchsballon steigen ließ. Ich erwähnte in der Einleitung zu meinem Vortrag nur ganz am Rande, dass im Jahre 2003 für die deutsche Brüderbewegung ja ein großes Jubiläum anstehe. Ich gebe zu, dass dieser Hinweis nicht ganz ohne Hintergedanken war. Denn ich hegte in mir die Befürchtung, dass dieses Jubiläum dem Vergessen anheimfallen würde. Und die Reaktion damals gab mir Recht: Die Verwunderung der Brüder am Tisch in der Dillenburger Konferenz steht mir heute noch plastisch vor Augen und bestätigte mir, dass dieses Jubiläum den meisten nicht bewusst war. Sie können sich vorstellen, dass es mir von daher ein großes Vergnügen ist, dass wir alle heute diesen Tag begehen dürfen.

Die Vergesslichkeit in Sachen Geschichte ist also auch an unseren Gemeinden und Versammlungen nicht vorbeigegangen. Aus den eben genannten Gründen halte ich das für fatal, und ich würde mir wünschen, wenn auch in den Versammlungen vor Ort das Interesse an der Geschichte steigen würde. Unser Gott ist ein Gott, der Geschichte macht. Er handelt in Raum und Zeit. Seinen Wegen in der Vergangenheit nachzuspüren ist eine spannende und motivierende Angelegenheit. Wer lässt sich davon anstecken? Vielleicht auch durch diesen Tag.

Noch einmal zurück zu den Reaktionen auf diesen Tag. Neben der Vergesslichkeit gab es auch andere Einstellungen. So war zu hören, wir sollten aus diesem Tag angesichts der Verirrungen der Vergangenheit eine große Bußveranstaltung machen. Es gebe da gar nichts zu feiern, meinten einige. Nun kenne ich die Geschichtskenntnisse dieser Brüder nicht. Ich vermute zudem, dass einige dieser Brüder mit solchen Argumenten vielleicht ihre eigenen negativen Erfahrungen mit der Brüderbewegung verarbeiten wollen. Das meine ich nicht respektlos. Denn wenn wir diese Einwände einmal ernst nehmen wollen, sollten wir daraus lernen, dass in der heutigen Rückschau die Vergangenheit nicht vergoldet werden soll. Nicht alles, was sich in der 150-jährigen Geschichte der deutschen Brüderbewegung abspielte, wird man bewundern können. Ich sage es gleich vorab: Die vielen Spaltungen und Kontroversen in einer Bewegung, die sich eigentlich die Einheit des Leibes Christi auf ihre Fahnen geschrieben hat, sind ebenso beschämend wie die Haltung großer Teile der Brüderbewegung zum Nationalsozialismus und zu den Judenpogromen im Dritten Reich. Es geht hier und heute nicht um eine Glorifizierung der Versammlungsgeschichte, sondern um eine realistische Gesamtschau dessen, was in 150 Jahren geschehen ist. Dies soll gleich am Anfang betont werden. Ja, wir haben Grund, uns unter die Fehler der Geschichte zu beugen und daraus zu lernen.

Aber wir dürfen bei all dieser berechtigten Kritik auch nicht auf der anderen Seite des Pferdes herunterfallen. 150 Jahre Brüdergeschichte sind nicht 150 Jahre Unheils- oder gar „Verfallsgeschichte“. Wir brauchen uns unserer Geschichte nicht zu schämen! Gott hat die Brüderbewegung in Deutschland in ungeheurem Maße gebraucht, um Menschen zu Gott zu führen und in ihrem Glauben zu befestigen. Nicht umsonst ist die Brüderbewegung bis heute eine der größten und wirkungsvollsten Gruppen innerhalb der neutestamentlichen Gemeinde in Deutschland. Die starke Innenschau der Brüdergemeinden führt jedoch dazu, dass man dies nicht immer oder zu selten wahrnimmt. Die Fehler und Schwächen der eigenen Gemeinde sieht man manchmal stärker als die Stärken der Versammlung. Um ein realistisches Bild von Stärken und Schwächen zu bekommen, wurde dieser Tag angesetzt.

Deshalb plädiere ich sehr dafür, mehr die vielen positiven Aspekte der eigenen Geschichte in den Blick zu nehmen und daraus für die Gegenwart zu lernen. Lassen Sie mich es bitte pointiert und überspitzt sagen: Jeder, der aus einer Brüderversammlung kommt, sollte im richtigen Sinne stolz darauf sein. Nicht im Sinne einer nicht selten anzutreffenden Arroganz und Überheblichkeit gegenüber Mitchristen, sondern im Sinne einer dankbaren Achtung vor Gottes Wirken in unserer Bewegung.

Eine dritte Vorbemerkung sei mir gestattet:


1.3. Feiern wir heute zu Recht 150 Jahre Brüderbewegung?

Manche Experten unter uns werden vielleicht einwenden, dass wir heute gar nicht 150 Jahre deutsche Brüderbewegung feiern dürften. Nicht zu Unrecht könnte man behaupten, dass es schon vor 1853 in Deutschland Brüdergemeinden gegeben hat. Von einer ersten Gemeinde hören wir schon 1843 in Stuttgart. Der unter uns weilende August Jung hat außerdem in seiner lesenswerten Monographie über Julius Anton von Poseck erst neulich nachgewiesen, dass dieser schon seit 1851 Brüderversammlungen im Düsseldorfer und Wuppertaler Raum sammelte, also zwei Jahre vor 1853.3 Die Siegerländer unter uns werden an dieser Stelle sicher darauf hinweisen, dass erste Gemeindegründungen in Siegen schon auf 1852 zu datieren sind.4 Gleiches könnte man zu den Gemeinden im Dillkreis sagen.5 William Darby, ein Bruder John Nelson Darbys, wirkte ebenfalls schon seit 1848 in Düsseldorf.

Alle diese Einwände sind berechtigt. Ich frage mich aber, warum die entsprechenden Experten nicht vor ein, zwei oder gar zehn Jahren das Jubiläum angemahnt und organisiert haben. Wir haben uns nicht ohne Grund auf das Jahr 1853 als Entstehungsjahr einer deutschen Brüderbewegung geeinigt. Ohne den eben genannten Vorläufern zu nahe treten zu wollen oder sie in ihrer Bedeutung zu schmälern: Es waren vor allem Carl Brockhaus (1822–1899) und sein Freundeskreis, die von Elberfeld aus ab 1853 innerhalb weniger Jahre an vielen Orten in Deutschland die Brüderversammlungen ausbreiteten.6 Diese Gemeinden entstanden häufig aus schon vorhandenen erbaulichen Gemeinschaften, also aus Vorläufern. Aber von einer echten Brüderbewegung, die diese Kreise sammelte und zusammenschloss, kann man tatsächlich erst seit 1853 reden.

Noch eine Bemerkung zur Festlegung von Jubiläen: Die meisten Kirchen, Freikirchen und Gemeinschaften haben hier das gleiche Problem. Man könnte mit Recht auch die Frage stellen, wann denn eigentlich das Luthertum entstanden ist: 1517 beim Thesenanschlag in Wittenberg, 1521 beim Reichstag zu Worms, 1530 in Augsburg oder gar erst 1555 beim Augsburger Religionsfrieden?

Wie es auch sei: Ob 1843, 1851, 1852 oder 1853 – es geht letztlich nicht um Jahreszahlen, sondern um Gottes Weg mit dieser Bewegung.

Eine allerletzte Vorbemerkung: Einen auch mit Bildern illustrierten Gang durch die Geschichte der Brüderbewegung werden wir später in einer PowerPoint-Präsentation sehen.7 Ich werde deshalb im Folgenden nur einige wichtige Aspekte der Brüdergeschichte herausgreifen.

Nun zur Sache:


2. Einige ausgewählte Aspekte der Geschichte der Brüderbewegung in Deutschland

2.1. Die Entstehung der Brüdergemeinden im Rahmen der Erweckungsbewegung

Von den Vorläufern der Brüderbewegung wurde schon berichtet. Diese Aufbrüche in Deutschland Anfang der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts müssen im Rahmen der damaligen Zeit gesehen werden. Besonders im Wuppertal brodelte es. Soziale Spannungen in der Bevölkerung führten zu Unruhe und Verunsicherung. Die Revolution von 1848 verstärkte die Unsicherheit in der Bevölkerung. Industrialisierung und soziales Elend waren an der Tagesordnung. Viele Menschen sehnten sich nach Sicherheit, Geborgenheit und Halt. Diese so genannte „Gründerzeit“ war in vieler Hinsicht der Beginn dessen, was wir heute als die „Moderne“ bezeichnen. Viele Menschen fragten in diesen Zeiten der Unsicherheit nach Sinn und Orientierung. In diese Situation hinein stieß die Erweckungsbewegung.8

Die Not der Menschen ließ damals zunächst neue diakonisch-evangelistische Vereine entstehen. Die „Evangelische Gesellschaft für Deutschland“ kümmerte sich z.B. seit 1848 im Wuppertal um die Evangelisierung der Massen. Eine weitere Vereinigung, der „Evangelische Brüderverein“, versuchte seit 1850, ebenfalls von Wuppertal aus, die Verlorenen im Bergischen Land, im Siegerland und im Rheinischen mit dem Evangelium zu erreichen und in Erbauungskreisen zu sammeln. Wuppertal war damals ein Schmelztiegel politischer und religiöser Aufbrüche. Selbst innerhalb der landeskirchlichen Gemeinden waren erweckliche Prediger tätig. Der holländische reformierte Theologe Kohlbrügge scharte eine große Gemeinde um sich, die heute noch existierende Holländisch-Reformierte Gemeinde in Wuppertal. Ludwig Feldner tat es ihm gleich mit seiner altlutherischen Kirche in Elberfeld. 1852 gründete Julius Köbner eine Baptistengemeinde in Elberfeld/Barmen, die erste Baptistengemeinde im Rheinland. Im November 1854 folgte die erste Freie evangelische Gemeinde auf deutschem Boden unter Hermann Heinrich Grafe.

Damit soll deutlich gemacht werden: Die Gründung der Brüdergemeinden Anfang der 50er Jahre fiel nicht aus heiterem Himmel, sondern war Ausdruck einer großen Erweckungsbewegung, die damals durchs Land ging. Die Brüderbewegung ist nur ein Teil dieser Erweckungsbewegung gewesen, nicht einmal der größte Teil. In diesen Jahren entstanden allein im Wuppertal fünf neue Freikirchen. Aber auch an vielen anderen Orten des damaligen Deutschen Reiches kamen Menschen zum Glauben, besonders im Siegerland, im Bergischen Land und in Württemberg. Von Kiel bis ins Allgäu, vom Niederrhein bis nach Schlesien kam es zu erwecklichen Aufbrüchen. Die Überzeugung von der nahenden Ankunft des Herrn war in fast allen diesen Kreisen verbreitet. In diesen so regen 50er Jahren des 19. Jahrhunderts entstanden überall neue Konventikel, also Kleingruppen, die neben der verfassten Kirche Gemeinschaft der Gläubigen darstellen wollten.

Diese unleugbaren Tatbestände machen deutlich: So einmalig, wie wir es manchmal meinen, ist die Brüderbewegung in den Anfängen nicht gewesen. Die Brüderbewegung ist nur ein Teil der wohl größten Erneuerungsbewegung Deutschlands seit der Reformation und dem Pietismus des 17. Jahrhunderts. Die erste Generation von Brüdern war ein Ast am großen Baum der Erweckungsbewegung, zugegeben ein bedeutender Ast. Aber es gab noch viele andere. Die Konfessionsväter der ersten Generation, Männer wie Hermann Heinrich Grafe, Julius Köbner, Ludwig Feldner und Carl Brockhaus waren tatsächlich damals noch Freunde, Verbündete gegen den Zeitgeist.9 Die Betonung von Bekehrung und Wiedergeburt, allgemeinem Priestertum, Heiligung, Naherwartung der Wiederkunft Jesu und Mission war damals in allen Erweckungskreisen weit verbreitet, nicht nur in der Brüderbewegung.

Dieser für manche vielleicht überraschende Tatbestand wird auch durch die Tatsache deutlich, dass Carl Brockhaus ja Mitgründer der Evangelischen Gesellschaft und ab Dezember 1851 auch vollzeitlicher Mitarbeiter im Evangelischen Brüderverein war. Im Brüderverein wie in der Evangelischen Gesellschaft spielten konfessionelle Unterschiede zunächst keine Rolle. Zentral war die Konzentration auf die Verkündigung des Evangeliums und die Pflege der vielen kleinen Erbauungskreise im Land. Der Brüderverein in Elberfeld war im guten Sinne des Wortes erwecklich.

Summa summarum: Die Wurzeln der deutschen Brüderversammlungen waren nicht die Sondererkenntnisse Einzelner, sondern die Wurzeln und Fundamente der deutschen Brüderbewegung lagen in den erwecklichen Aufbrüchen der damaligen Zeit. Diese Erkenntnis macht demütig, aber auch froh. Denn sie zeigt die Verbundenheit der deutschen Brüderbewegung mit den vielen Bibeltreuen der damaligen Zeit.


2.2. Die besonderen Kennzeichen der Brüderbewegung

Nun werden hier einige protestieren und mit Recht behaupten, dass es doch erhebliche Unterschiede zwischen den Erweckten und der Brüderbewegung gab. Dazu ist zu sagen: In den grundlegenden Fragen nach der Erlösung und dem Heil gab es praktisch keine Unterschiede. Die lagen auf anderen Feldern, die man als Sondergut der Brüder bezeichnen kann. Denen wollen wir uns nun zuwenden.


2.2.1. Die Heiligkeits- und Absonderungslehre

Die Trennung von den Erweckten hing zunächst mit der Frage der Heiligung und der Heiligkeit des Christen zusammen. „Heilig in Christo“ war von Anfang an das Programm der Brüder. Carl Brockhaus10, der unumstrittene Führer der ersten Generation, formulierte deutlich die Veränderung des Menschen durch die Bekehrung. Christus sei nicht nur für die Sünden der Menschen gestorben, sondern auch für deren Heiligung. Durch ihn allein könne aus einem Sünder ein Gerechter werden. „In Christus“ wurde das geflügelte Wort. In Ihm habe man die gerechte Stellung vor Gott. Durch Ihn vermöge man alles. Das völlige Heil in Christo versetze den Christen in eine himmlische Dimension.

Brockhaus entfernte sich dadurch vom damals gängigen lutherischen Verständnis des Gläubigen als Gerechter und Sünder zugleich. Das lutherische „simul iustus et peccator“ schränke die Bedeutung des Opfertodes Jesu ein. Andererseits vertrat Brockhaus keineswegs die Sündlosigkeit des Christen, wie manche ihm vorwarfen. Aber er betonte in den frühen Jahren sehr stark die Lösung des Gläubigen von aller Bindung der Sünde. Das konnte als Sündlosigkeit missverstanden werden. Kritiker haben schon damals darauf hingewiesen, dass die Gefährlichkeit der Sünde bei Brockhaus zu wenig in den Blick genommen werde. Die täglich nötige Reinigung und Buße wurden zwar nicht geleugnet, kamen aber zu wenig zum Tragen. Brockhaus wurde Hochmut vorgeworfen, was allerdings völlig aus der Luft gegriffen war. Er unterschied ja die Stellung vom Zustand des Christen. Trotzdem blieben Missverständnisse nicht aus, und so kam es zum Bruch.

Aus dieser Heiligkeitslehre folgten weitere Besonderheiten, die wir heute schnell als das Eigentliche der Brüderbewegung bezeichnen, die aber ohne die eben dargestellte Grundlage nicht zu verstehen sind:

Zunächst die Absonderungslehre. Sie war eine logische Folge der Lehre von der völligen Verwandlung des Gläubigen durch die Bekehrung. Ein in Christus geheiligter Mensch könne unmöglich noch Verbindung zur Welt haben. Er lebt ja praktisch in einer anderen Sphäre. Die Welt selber verstand man deshalb von Anfang an als „Jammertal“. Der Christ muss die Welt noch erleiden, er habe aber ein anderes Bürgerrecht. Diese Lehre der Absonderung von der Welt wurde leider später auch auf andere Brüder und Schwestern übertragen, mit denen man in den Anfangsjahren noch ungezwungen zusammenarbeitete, mit denen man später jedoch keine Verbindung mehr haben wollte.

Wenn man diesen Abschnitt zusammenfassen kann, dann mit folgenden Worten: Eine unbiblische Heiligungslehre kann man den Brüdern nicht vorwerfen, vielleicht allerdings eine übersteigerte Absonderungslehre, die nicht mehr zwischen der sündigen Welt einerseits und dem Nichtversammlungsbruder auf der anderen Seite unterschied. Darauf kommen wir noch zu sprechen.


2.2.2. Die Gemeinde- und Abendmahlsfrage

Eine zweite Folge der Heiligkeitslehre von Brockhaus war die Konzentration der christlichen Existenz auf das Versammlungsleben. Schon bei Carl Brockhaus sehen wir, wie das gesamte Christenleben sich um das Thema Gemeinde drehte. Die scharfe Unterscheidung zwischen Welt und Versammlung führte zu einer den ganzen Menschen gefangen nehmenden Konzentration auf die gemeindlichen Zusammenkünfte. Die Versammlung absorbierte quasi den gesamten Menschen. Ein Leben außerhalb der Versammlung oder sagen wir lieber „neben“ der Versammlung war nicht erwünscht oder gar nicht möglich.

Dies war ein weiterer Grund, warum es 1852 zur Trennung im Evangelischen Brüderverein kam. Bis heute ist die Lehre von der Gemeinde ja der wichtigste Eckpfeiler der Versammlungen der Brüder. Die Ablehnung aller organisatorischen Systeme stammte wohl von John Nelson Darby und seiner so genannten Verfallslehre. Carl Brockhaus selber vertrat aber schon vor der Prägung durch Darby die Überzeugung, dass die Leitung einer Gemeinde nicht einem Amt, sondern dem Heiligen Geist überlassen werden sollte. Deshalb lehnte auch er eine übermäßige Organisation und Hierarchie der Gemeinde ab. An diesem Punkt musste es zu Konflikten im Brüderverein kommen, der jeden Geruch einer außerkirchlichen Sektiererei von sich fernhalten wollte.

Konsequenz dieser elitär anmutenden Gemeindelehre war auch die Betonung des Brotbrechens, das die Einheit des Leibes Christi darstellen sollte. Deshalb war klar, dass nur wahrhaft Wiedergeborene am Abendmahl teilnehmen durften. So weit wird man den Brüdern damals Recht geben können. Bald kam es jedoch dazu, dass sogar nur Versammlungschristen zum Mahl eingeladen waren. Der Gefahr einer separatistischen Elitegemeinde wurde hier nicht gewehrt. Aus der Bewegung der Einheit des Leibes Christi war eine Bewegung der Abgrenzung und Absonderung geworden.


2.2.3. Eine besondere Form der Naherwartung

Schon innerhalb der ersten Generation von Brüdergemeinden war die Naherwartung stark ausgeprägt. An diesem Punkt unterschied sich die Brüderbewegung zunächst nicht von großen Teilen der damaligen Erweckungsbewegung. Das sei hier deutlich betont. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts blühten die Endzeitspekulationen im Deutschen Reich. Die baldige Ankunft des Herrn gehörte zum Grundgerüst erwecklicher Überzeugungen.

Die Endzeitlehre der Brüdergemeinden hatte aber eine Besonderheit. Sie unterschied klar die Heilszeit Israels von der Heilszeit der Gemeinde. Diese Form einer heilsgeschichtlichen Bibelauslegung prägte schon die frühen Schriften der Brüder. Israel als das irdische Reich Gottes auf der Erde und die Gemeinde als das himmlische Reich mussten klar voneinander getrennt werden. So ist es auch verständlich, dass der Zeitpunkt der Entrückung der Gemeinde vor der Trübsalszeit datiert wurde. Denn ein Nebeneinander von Gemeinde und Israel auf der Erde konnte es in diesem System nicht geben.

Diese später so genannte dispensationalistische Auslegung der Schrift trat seit Anfang des 20. Jahrhunderts von den USA aus einen ungeheuren Siegeszug an. Weite Teile des evangelikal geprägten Protestantismus vertreten heute mehr oder weniger dispensationalistische Ansätze, auch in Deutschland. Die Brüderbewegung hat unbewusst zu diesem hermeneutischen Ansatz beigetragen, auch wenn die Ausbreitung durch Nicht-Brüdergemeindler geschah.


2.2.4. Die Brüderbewegung als Einheitsbewegung?

Wie schon erwähnt, war ein weiteres Kennzeichen der frühen Brüderbewegung in England, Irland und auch in Deutschland der Gedanke der Einheit der Kinder Gottes. Bei aller Absonderung muss dieses Kennzeichen doch positive Erwähnung finden. Die Zersplitterung der Gemeinde Jesu in verschiedenste Grüppchen war damals schon unerträglich. Das biblische Gebot von der Einheit des Leibes Christi war Mitte des 19. Jahrhunderts längst ad absurdum geführt. Das haben die Brüder richtig erkannt.

Trotzdem kam es besonders innerhalb der Brüderbewegung in England paradoxerweise zu mehreren Spaltungen. Neben der Trennung in Offene und Exklusive Brüder müssen erwähnt werden: die Ramsgate-Spaltung von 1881, die Grant-Spaltung von 1884, die Stuart-Spaltung von 1885, die Raven-Spaltung von 1890, die Tunbridge-Wells-Spaltung von 1909. Das klingt nicht gerade nach Einheit.

Nun muss man hier differenzieren: Einige dieser Spaltungen hatten gute Gründe und hingen mit offensichtlicher Irrlehre zusammen. Bei anderen Trennungen ging es mehr um unterschiedliche Interpretationen von Bibelversen. Das Problem lag allerdings darin, dass diese Trennungen weltweit ja von allen Versammlungen mitverantwortet werden mussten, um die Einheit des Leibes zu gewährleisten. Wer wollte aber aus der Ferne die Gründe im Detail überprüfen? Zudem spielte noch ein, wie ich meine, überspitztes Verständnis von der Reinheit der Gemeinde und des Tisches des Herrn eine Rolle. Man meinte, dass man die Reinheit des Abendmahls nicht durch die Teilnahme von Gläubigen gefährden dürfe, die abweichende Lehren vertreten. Dabei wurden nicht nur Christen abgewiesen, die selber Irrlehren vertraten oder einen falschen Lebenswandel führten, sondern auch rechtgläubige Christen, die mit Ersteren noch in irgendwelchen Verbindungen standen. In Fachkreisen nennt man eine solche Haltung „Separation des zweiten Grades“ – wie ich meine, eine äußerst problematische und mit der Schrift nicht in Einklang stehende Einstellung (Identifikationslehre).

Unbedingt erwähnenswert ist aber hier die Tatsache, dass die meisten Spaltungen der englischen Brüderbewegung nicht auf Deutschland übergriffen. Die starke Stellung von Carl und Rudolf Brockhaus hat ein Übergreifen der Auseinandersetzungen nach Deutschland verhindert. Allein der Einfluss der Raven-Versammlungen war in Deutschland zu spüren und führte 1893 zur Abspaltung einer Reihe von Versammlungen. Ansonsten blieben die deutschen Brüdergemeinden jedoch von diesen internationalen Turbulenzen weitestgehend verschont. Darin ist ein großer Segen Gottes zu erkennen!


3. Die Ausbreitung der Brüderbewegung in Deutschland

Innerhalb weniger Jahrzehnte multiplizierte sich die Zahl der Brüderversammlungen im deutschsprachigen Raum. Carl Brockhaus und der ebenfalls aus dem Brüderverein ausgeschiedene Wilhelm Alberts waren ständig unterwegs. Zentren wurden das Bergische Land11, das Siegerland12, die Gegend in und um Hagen13, das Rheinland und Schlesien.14 Aber auch im Westerwald und im Dillkreis15 entstanden immer mehr Versammlungen, ebenso im Vogtland.16 Bei den Offenen Brüdern, die in Deutschland seit Anfang des 20. Jahrhunderts mehr im Umfeld der Blankenburger Allianz entstanden, gab es keine geographischen Zentren. Wichtige Gemeinden waren hier Berlin, Bad Homburg und Dresden.

Einige Besonderheiten der Ausbreitung seien hier erwähnt:


3.1. Evangelisation und Mission in der Brüderbewegung

Im Gegensatz zur Entwicklung der Brüderbewegung in vielen Ländern der Welt ist die deutsche Brüderbewegung nicht in erster Linie durch Konvertiten aus anderen Denominationen, sondern vielmehr durch Evangelisation gewachsen. In Deutschland gab es damals ja noch gar keine großen Freikirchen, d.h. Brockhaus und seine Gesinnungsgenossen mussten weithin erst einmal den Boden durch evangelistische Aktionen vorbereiten, um darauf dann Versammlungen aufbauen zu können. Der Brüderbewegung war deshalb von Anfang an eine evangelistische Stoßkraft eigen, was heute leider nur selten beachtet wird.

Die schon bald in Dienst gestellten so genannten „Reisebrüder“ waren z.B. keineswegs nur Lehrbrüder, sondern in erster Generation auch fleißige Evangelisten. Die Verkündigung der Botschaft vom stellvertretenden Kreuzestod Jesu außerhalb der Landeskirchen war damals übrigens noch mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Einige der Sendboten wurden des Landes verwiesen oder kamen gar in Arrest. In der Rückschau auf die Anfänge sollten wir deshalb auch der Leiden unserer Vorfahren gedenken, die unter erheblich schwierigeren Umständen für die Sache Jesu unterwegs waren.

Auch später gab es immer wieder bekannte Evangelisten unter den Brüdern, man denke nur an General Georg von Viebahn, den Soldatenmissionar, oder an Friedrich Wilhelm Baedeker, den Evangelisten der russischen Gefängnisse. Bei den Offenen Brüdern wirkte evangelistisch vor allem Ernst Lange. Auch durch evangelistische Traktate wirkte man in viele Häuser hinein. Dieser stark evangelistische Aspekt bewahrte viele Gemeinden davor, zu erstarren.

Aber auch die so genannte Außenmission darf nicht unerwähnt bleiben. Hauptgebiet der frühen Jahre waren China, wo allein Ende des 19. Jahrhunderts sechs deutsche Missionare wirkten, und Ägypten.17 Die Aufarbeitung dieser Missionsinitiativen steht übrigens noch aus. Nur am Rande sei erwähnt, dass die Brüdergemeinden in Ägypten bis heute die größte protestantische Freikirche sind. Die deutschen Brüdergemeinden hatten daran erheblichen Anteil. Die Mitteilungen aus dem Werke des Herrn in der Ferne berichteten auch über Missionsarbeit in Brasilien, Japan, Südafrika, Griechenland, Mesopotamien und Osteuropa. Ab 1905 kam zudem die Missionsarbeit der Bibelschule in Berlin hinzu, die viele ihrer Absolventen in Russland und anderen Ostländern wie Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Jugoslawien einsetzte, das heutige Missionshaus Bibelschule Wiedenest.

Die Brüderbewegung war von Anfang an also eine Missionsbewegung. Der Ruf zur Umkehr war die entscheidende Triebkraft und Motivation. Dieses Erbe unserer Geschichte dürfen wir nicht vergraben. Es ist uns heute Erbe und Verpflichtung zugleich.


3.2. Das Konferenzwesen

Die vielen verstreuten Versammlungen wurden sehr bald schon von Reisebrüdern geistlich versorgt. Um darüber hinaus jedoch ein festeres Band der Zusammenarbeit zu gewährleisten, kam es zu einem ausgeprägten Konferenzwesen. Wichtige Konferenzorte wurden Elberfeld, Dillenburg, Zwickau, Berlin und Reichenbach in Schlesien.18 Hausbesuche der dienenden Brüder waren damals schon an der Tagesordnung. 1939 zählte man immerhin 45 Reisebrüder, die in der Regel auf festen Reiserouten unterwegs waren. Aber auch innerhalb der Offenen Brüderbewegung gab es von Anfang an Konferenzen. Die wichtigsten waren in Berlin, Bad Homburg, Leipzig, Zwickau und Wiedenest. In erster Linie wurde auf den Konferenzen ein Bibelabschnitt gemeinsam betrachtet. Das allgemeine Priestertum war auch hier wichtig: Möglichst viele Brüder sollten sich an der Schriftauslegung beteiligen.

Natürlich kann man hier kritisch anfragen, ob die Installation von Reisebrüdern und Konferenzen nicht auch ein gewisses System hervorbrachte, was man ja eigentlich verhindern wollte. Es ist auch mehr als offensichtlich, dass in der ersten Generation Carl Brockhaus und in der zweiten Generation sein Sohn Rudolf Brockhaus eine sehr große Autorität hatten, besonders auf den Konferenzen. Gleiches gilt für Leute wie General von Viebahn, Baedeker oder Jean Leonhardt in Bad Homburg.

Nehmen wir es einmal positiv: Die Konferenzen waren das Einheitsband der Versammlungen. Die Gemeinschaft unter dem Wort Gottes war ein wichtiges Kennzeichen der Bruderschaft – und ist es bis heute geblieben.


3.3. Die Literatur der Brüderbewegung

Ein dritter Grund für die starke Ausbreitung der Brüderbewegung lag sicher in der Bekanntheit ihrer Literatur. Brockhaus gab ab 1853 den Botschafter des Heils in Christo heraus, eine Zeitschrift, die weite Verbreitung fand.19 Wichtiger wurde jedoch die Herausgabe der Elberfelder Bibel. 1855 erschien das Neue Testament, 1871 die ganze Bibel. Im Brockhaus-Verlag in Elberfeld erschienen neben den Werken von Darby auch Hunderte von Kleinschriften, die hohe Auflagen erreichten. Nicht vergessen werden darf auch die Zeitschrift Samenkörner, die seit 1865 für die Sonntagsschulen herausgegeben wurde. Für den Zusammenhalt der Versammlungen waren natürlich auch die Liederbücher wichtig, seien es die so genannten Geistlichen Lieder oder die verschiedenen Liederbücher der Offenen Brüder. Nicht unbedeutend war auch die Elberfelder Bibelkonkordanz, herausgegeben von Wilhelm Brockhaus im Jahre 1937.

Nicht nur weil wir heute in Dillenburg sind, muss auch der Verlag Geschwister Dönges genannt werden, der insbesondere evangelistische Schriften verlegte. Auch bei Dönges erschienen bekannte Zeitschriften, z.B. der Freund der Kinder und der Familienkalender Botschafter des Friedens oder die Zeitschrift Gnade und Friede. Die Zeit würde nicht reichen, alle Zeitschriften der Brüderbewegung aufzuzählen. Sie wirkten weit über die Brüdergemeinden hinaus.

Bei den Offenen Brüdern spielten die Handreichungen eine wichtige Rolle, herausgegeben von Albert von der Kammer in Dresden. Auch bei den Offenen Brüdern war die Zahl der Zeitschriften Legion, man denke nur an das Periodikum von Johannes Warns Worte der Wahrheit in der Liebe oder an die Offenen Türen.

Klar ist: Die Brüderbewegung war eine lesende Bewegung. Sie wirkte dadurch weit über ihre Kreise hinaus. Die Zahl der größeren Publikationen war allerdings gering, da man sich fast ausschließlich mit der Bibel beschäftigte. Man findet auch wenige Beiträge zu aktuellen politischen oder gesellschaftlichen Entwicklungen in diesen Schriften. Die vielen erbaulichen Zeitschriften und Blättchen hatten jedoch für die Gesamtbewegung eine eminent wichtige Bedeutung.


3.4. Die Zahl der Brüdergemeindler

Wie viele Brüdergemeindler gab es denn eigentlich in Deutschland? Eine schwierige und unlösbare Frage, denn es wurden ja keine Mitgliederlisten geführt. Zudem eine gefährliche Frage: Man könnte sich allein über die Legitimität von Mitgliederzahlen streiten, was wir aber hier und heute nicht tun wollen.

Aus den schon damals erschienenen Wegweisern kann man allein die Zahl der Versammlungsorte ableiten. So weiß man, dass 1878 bei den Elberfelder Versammlungen 189 Versammlungsorte gezählt wurden.20 52 Jahre später, 1930, waren es immerhin schon 700 Orte.21 Die Größe der einzelnen Versammlungen variierte natürlich. Nimmt man für die letztgenannte Zahl einen Durchschnittswert von 50 Gliedern pro Versammlung an, käme man auf ca. 35000 Anhänger. Dazu müsste man jedoch noch die Kinder zählen, die nicht nur damals reichlich vertreten waren. Nimmt man noch einmal die Zahl der Glieder der Offenen Brüder hinzu, die sich 1939 an 135 Orten versammelten, so muss man die Gesamtzahl aller erwachsenen Brüdergemeindler in Deutschland damals auf mindestens 40.000 schätzen, wahrscheinlich waren es sogar mehr. Mit Kindern kommt man leicht auf die Zahl 100.000, wahrscheinlich ist diese Zahl jedoch noch viel zu klein.

Sei es, wie es sei: An diesen Zahlenspekulationen wird deutlich, dass die Brüdergemeinden innerhalb des freikirchlichen Spektrums zahlenmäßig lange Zeit eine der größten, wenn nicht die größte Gruppe außerhalb der verfassten Landeskirchen waren. Dies ist kein Grund zu Stolz oder Überheblichkeit, sondern zur Dankbarkeit. Andererseits spielten sie im öffentlichen Leben der Freikirchen meist keine Rolle, da sie stark auf sich selbst bezogen waren. Diese Spannung ist meines Erachtens bis heute zu spüren.


3.5. Das Verhältnis zu anderen Gläubigen

Lassen Sie mich an dieser Stelle einen kritischen Punkt streifen, nämlich gerade dieses Verhältnis der Brüderbewegung zu anderen Gläubigen in Deutschland.

Es ist eine unleugbare Tatsache, dass es in der Beziehung zu anderen bibeltreuen und wiedergeborenen Christen immer wieder zu Irritationen und Verletzungen kam. Zum einen war es die rigorose Absonderungslehre, die in einem großen Teil der Bewegung dazu führte, den Kontakt zu allen anderen Christen kategorisch abzubrechen. Es ging dabei, wie gesagt, nicht nur um eine Absonderung von der sündigen Welt oder den verweltlichten Landeskirchen, sondern der Bruch wurde auch mit bibeltreuen Freikirchlern vollzogen. Der Hauptgrund lag einfach darin, dass sie eine andere Gemeindelehre vertraten, im Originalton der Versammlungen: „weil sie sich noch in menschlichen Systemen befinden.“ Dieses Urteil galt auch für das Verhältnis der Exklusiven Brüder zu den Offenen Brüdern. Ein gemeinsames Abendmahl war selbst zwischen diesen beiden Gruppen nicht möglich. Diese rigorose Ablehnung scheint mir übrigens weniger in den Anfangsjahren der Bewegung als in der zweiten Generation durchschlagend gewesen zu sein.

Diese Trennung aus lehrmäßigen Gründen ist die eine Seite der Medaille. Es gab jedoch noch eine andere Eigenart, auf die ich kurz zu sprechen kommen möchte. Ich nehme als Beispiel einmal den so genannten „Schriftenstreit“ zwischen den Elberfelder Versammlungen auf der einen Seite und den Freien evangelischen Gemeinden auf der anderen Seite. Dieser Streit wurde auf literarischem Gebiet zwischen 1911 und 1914 geführt. Hintergrund war eine schon Jahrzehnte vorherrschende Spannung zwischen beiden sich eigentlich nahe stehenden Gruppierungen. Hermann Heinrich Grafe, der Gründer der Freien evangelischen Gemeinden, war ja Vorsitzender des Evangelischen Brüdervereins, aus dem Carl Brockhaus und seine Mitstreiter ausgeschieden waren. Auch in der Folgezeit kam es immer wieder zu Konflikten, da Mitglieder von Freien Gemeinden in Versammlungen wechselten. Es kam also ab und an zum Proselytismus. Ab etwa 1905 äußerten sich die Führer der Freien evangelischen Gemeinden dann literarisch gegen die Gemeindelehre der Brüder.

Diese spannende Debatte zu verfolgen ist hochinteressant. Die verschiedenen Meinungen über die neutestamentliche Gemeinde wurden kontrovers und meist sachlich veröffentlicht. Ich möchte jedoch meinen Fokus auf etwas anderes legen. Den Brüdergemeinden wurde damals vorgeworfen, dass sie ihre Argumente in einer Absolutheit vortrügen, die nicht geistlich sei. Abstoßend war weniger das „Was“ der Argumente der Brüder, sondern die Art und Weise, wie diese Argumente vorgetragen wurden. Man erweckte den Eindruck, im Vollbesitz der Wahrheit zu sein. Die ständige Betonung, nur in der Versammlung sei die wahre Gemeinde des neuen Bundes versammelt, verstärkte zudem nicht gerade das Vertrauen der Gegenseite. Immer wieder wurde den Brüdern „Lieblosigkeit“ vorgeworfen.

Nun muss man gleich dazusagen, dass auch einige Autoren der Freien Gemeinde ihre Einwände nicht gerade zimperlich vorbrachten. Aber sei es, wie es sei: Die Haltung der alleinigen Rechtgläubigkeit wurde von anderen gläubigen Christen häufig als arrogant und überheblich wahrgenommen. Hier hätte den Brüdern mehr Demut und Zurückhaltung gut getan, wenn man andererseits wiederum voller Respekt die Konsequenz ihrer biblischen Erkenntnisse bewundert.


4. Abschließende Bemerkungen

Lassen Sie mich mit einigen zusammenfassenden Bemerkungen schließen:

1. Die Geschichte der Brüderbewegung in Deutschland war vom Segen Gottes begleitet. Die Erkenntnis über die neutestamentliche Gemeinde der wahren Gläubigen, von der heilsgeschichtlichen Bibelauslegung, von der Bedeutung des Abendmahls und der Absonderung von der Welt sind wichtige Merkmale und Charakteristika der Bewegung gewesen. Die lehrmäßige Verwurzelung in der Bibel, die intensive Kinderarbeit, die Ausrichtung auf Evangelisation und Mission sind in vieler Hinsicht vorbildlich. Viele Tausende sind durch die Brüdergemeinden zum Glauben gekommen, auch in anderen Ländern der Welt. Für Deutschland sind insbesondere die Schriften der Brüderbewegung Hunderttausenden zum Segen geworden. Gott hat seine Gemeinde auch in und durch die Brüderbewegung in Deutschland gebaut. Dafür dürfen wir im Rückblick unserem Gott sehr dankbar sein.

2. Die Geschichte der Brüderbewegung ist aber auch eine Geschichte voller Versagen. Eigenwillige Machtansprüche einiger Führer sind hier ebenso zu beklagen wie eine paradox anmutende Spannung zwischen dem Ziel der Einheit der Gläubigen und unsäglichen Spaltungen und Spannungen innerhalb der Brüderbewegung. Es hat auch nicht an Überheblichkeit und manchmal sogar an Arroganz gefehlt, fühlte man sich doch insgeheim als Elite. Die Begrenztheit unserer menschlichen Erkenntnis stand manchen nicht immer klar vor Augen. Die so richtige und notwendige Absonderung von der Welt wurde verhängnisvollerweise auch auf viele wiedergeborene Christen außerhalb der Versammlungen übertragen, was zu unendlichem Leid in vielen Familien und Gemeinden geführt hat. Deshalb macht der Blick zurück auch sehr nachdenklich und betroffen.

Was bleibt: Gottes Weg mit der Brüderbewegung ist nach 150 Jahren noch nicht zu Ende. Die Herausforderungen unserer Zeit sind nicht weniger herausfordernd als diejenigen Mitte des 19. Jahrhunderts. Ich wünsche Ihnen und mir den Glaubensmut der Väter, ihre Bibelkenntnis, ihre Konsequenz und Verbindlichkeit. Ich wünsche mir aber auch den Mut, Altes zu verlassen und Neues anzupacken. Wenn wir heute das tun, was die Väter taten, tun wir nicht das, was die Väter taten. Sie waren in vielem innovativer als wir. Möge uns Gott Gnade geben, zwischen notwendigen und erhaltenswerten Traditionen und unnötigen und blockierenden Traditionen zu unterscheiden!


Anmerkungen:

[1] Das hier vorliegende Manuskript ist ausführlicher als der Vortrag, da aus Zeitgründen einige Aspekte ausgelassen werden mussten. Die Fußnoten sind nur exemplarisch zu verstehen. [Anmerkung bruederbewegung.de: Eine erweiterte Fassung des Vortrags erschien auch in Freikirchenforschung 14 (2004), S. 210–228.]

[2] Den besten Überblick zur Geschichte der deutschen Brüderbewegung bietet Gerhard Jordy, Die Brüderbewegung in Deutschland, 3 Bände, Wuppertal (R. Brockhaus) 1979–1986.

[3] Vgl. August Jung, Julius Anton von Poseck. Ein Gründervater der Brüderbewegung, Wuppertal (R. Brockhaus) 2002.

[4] Vgl. Wolfgang Heinemann, Die 150-jährige Geschichte der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde Siegen, Weststraße. Eine Biographie, Hilchenbach (Selbstverlag) 2002. Heinemann lässt die Geschichte der Gemeinde 1852 beginnen, wobei unklar bleibt, ob sie sich damals schon als „Brüdergemeinde“ verstand.

[5] Vgl. die Quellensammlung von Eugen Kunz, Beiträge zur Geschichte der Brüderbewegung vor 150 Jahren im Raum Dillenburg, Dillenburg (Selbstverlag) 2002. Aber auch aus dieser Arbeit geht nicht hervor, dass entsprechende Versammlungen sich schon 1852 als Brüdergemeinden verstanden haben.

[6] Die Versammlung in Breckerfeld entstand wohl offiziell durch den Austritt ihrer 22 Mitglieder aus der Landeskirche am 11. Februar 1853. Die Elberfelder Versammlung wird um die gleiche Zeit entstanden sein.

[7] Den Text der Präsentation finden Sie hier.

[8] Zur Situation im Wuppertal und den damit verbundenen Freikirchengründungen vgl. Wolfgang Heinrichs, Freikirchen – eine moderne Kirchenform. Entstehung und Entwicklung von fünf Freikirchen im Wuppertal, Wuppertal (R. Brockhaus) 1989.

[9] Vgl. August Jung, Als die Väter noch Freunde waren. Aus der Geschichte der freikirchlichen Bewegung, Wuppertal (R. Brockhaus) 1999.

[10] Vgl. Rolf-Edgar Gerlach, Carl Brockhaus – ein Leben für Gott und die Brüder, Wuppertal (R. Brockhaus) 1994.

[11] Hier wirkte insbesondere Alberts, der am 5. November 1853 mit 18 Personen aus der Landeskirche austrat und in Großfischbach bei Wiehl eine Versammlung gründete, die allerdings auf mehrere Vorläufer des Evangelischen Brüdervereins zurückgreifen konnte.

[12] Vgl. Ulrich Bister, Die Brüderbewegung in Deutschland von ihren Anfängen bis zum Verbot des Jahres 1937 – unter besonderer Berücksichtigung der Elberfelder Versammlungen, Diss. theol., Marburg 1983, S. 75ff. Die folgenden Ausführungen stützen sich auf diese Arbeit.

[13] Frühe Versammlungsgründungen in Hagen, Rüggeberg, Voerde, Schwelm, Gevelsberg und Ennepetal.

[14] Vgl. Bister, S. 69.

[15] Vgl. ebd., S. 83ff.

[16] Vgl. ebd., S. 67f., 71f.

[17] Bister nennt für China Helene von Poseck, Heinrich Ruck, die Brüder Gustav und Wilhelm Koll, Dr. Hans Neuffer und dessen Schwester Ruth, für Ägypten Ludwig Schlotthauer und Otto Blaedel (S. 163).

[18] Seit 1857 gab es auch regelmäßig Konferenzen in Hagen (vgl. Heinrichs, S. 370).

[19] Die Zeitschrift hieß im ersten Jahrgang Der Botschafter in der Heimath, ab 1939 einfach Die Botschaft.

[20] Vgl. Bister, S. 56.

[21] Vgl. ebd., S. 9.

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