Interview mit Dr. Horst Afflerbach

Horst Afflerbach wurde 1953 in Siegen geboren. Nach Abitur und Zivildienst studierte er zunächst Evangelische Theologie an der STH Basel und am Theologischen Seminar des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Hamburg (heute in Elstal) sowie gastweise an der Universität Hamburg. Von 1979 bis 1985 war er Pastor der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde in Bünde. 1985 wurde er als Dozent für Systematische Theologie und Gemeindebau ans Missionshaus Bibelschule Wiedenest berufen, wo er – mit einer Unterbrechung von 1993 bis 1998, in der er als Pastor der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde Gummersbach-Derschlag arbeitete – bis heute tätig ist. 2005 wurde er an der University of South Africa mit der Arbeit „Die heilsgeschichtliche Theologie Erich Sauers im Kontext missionarischer Verantwortung“ promoviert. Im folgenden Interview erläutert er Hintergründe und Ergebnisse seiner Forschungsarbeit zu Erich Sauer.


Einleitende Fragen

Frage: Deine Doktorarbeit, jetzt erschienen unter dem Titel Die heilsgeschichtliche Theologie Erich Sauers (TVG / R. Brockhaus, Wuppertal), soll eine „Aufarbeitung des Lebens und Wirkens von Erich Sauer“ und eine „kritische Würdigung seines theologischen Schaffens“ liefern (S. 20f.). Du deutest an, dass die bislang vorliegenden Artikel und Aufsätze über die Person Sauer jahrzehntelang nahezu ausnahmslos „von großer Dankbarkeit und wohlwollender Beurteilung“ geprägt waren (S. 17f.). Pflegte man hier lange Zeit eine glorifizierende, geschönte Sicht, ignorierten die Autoren lange Zeit die Schattenseiten der Person und Theologie Sauers? 

Afflerbach: Es ist verständlich, dass Menschen wie z.B. Ernst Schrupp, die persönlich von Sauer gefördert und stark geprägt wurden, ihn über Jahre als Mitarbeiter und Lehrer erlebt haben, oder Schüler, die den Lehrer im Unterricht erlebt und persönliche Begleitung erhalten haben, in ihrer Beurteilung sehr dankbar und wohlwollend waren. Dies umso mehr, als das vor Jahrzehnten bis in die 50er und 60er Jahre vorherrschende Autoritätsverständnis eine kritische Haltung zu einem Lehrer dieses Kalibers kaum zuließ. In den Kreisen der Brüderbewegung war zudem eine kritisch-konstruktive Streitkultur kaum bis überhaupt nicht ausgebildet. Das alles führte dazu, dass Menschen, die sich strikt auf die Bibel beriefen, fast eine Art Heiligenstatus genießen konnten. Darüber wurden ihre Schattenseiten und Fehleinschätzungen einfach übersehen.

Frage: Du selbst nimmst für dich in Anspruch, die Arbeit „mit freundlichem Wohlwollen, aber auch kritischer Distanz“ zum Forschungsobjekt erstellt zu haben (S. 22). In welchen Punkten setzt du andere Akzente?

Afflerbach: Zu einer wissenschaftlichen Arbeit gehört eine kritische Distanz zum Forschungsobjekt, die sich durch persönliche Sympathien nicht vereinnahmen lassen darf. Sodann geht es darum, möglichst objektiv die Fakten zusammenzutragen und nachvollziehbar (transparent und plausibel) auszuwerten. Das führte dazu, dass ich bei Sauer Aussagen fand, die ich nicht mittragen kann (z.B. seine Beurteilung Hitlers und des Dritten Reichs überhaupt oder sein „heilsgeschichtliches Rassenprogramm“). Hier ist mittlerweile im öffentlichen – auch evangelikalen – Bewusstsein ein Wandel erfolgt, der zu einer Neubewertung mancher Aussagen nötigt. Andere Akzente kann man auch in der theologischen Bewertung mancher Positionen (z.B. Restitutionstheorie oder theistische Evolution) setzen.

Frage: Was verbindet dich persönlich mit der Person und dem Wirken Erich Sauers – etwa das Sachinteresse des Forschers, der Respekt des dankbaren lernenden Lesers oder der Abnabelungsprozess des Lehrers, der alte Positionen neu reflektiert?

Afflerbach: Alles zusammen. Ich habe Sauers Bücher als Student erst Mitte der 70er Jahre richtig kennen gelernt, obwohl sie bei meinem Vater im Bücherschrank standen. Damals ging es theologisch zwar um andere Themen, aber Sauer eröffnete mir eine neue Sicht auf das offenbarungsgeschichtliche Wirken Gottes, die ich sehr hilfreich fand. Sympathisch war mir, dass Sauer systematisch dachte, ohne aus seiner Erkenntnis ein weltanschauliches System zu machen. Und dass er seine Erkenntnisse nicht polemisch vortrug, fand ich gut. Ich spürte eine große Ehrfurcht vor Gottes Wirken und eine enorme Weite im Denken. Als ich dann vor 21 Jahren nach Wiedenest an die Wirkungsstätte Sauers berufen wurde, unterrichtete ich u.a. Heilsgeschichte, merkte aber bald, dass man sie nicht einfach so übernehmen konnte. Das wäre auch nicht im Sinne Sauers gewesen! So erwachte der Wunsch, mich mit Sauer theologisch intensiver auseinanderzusetzen. In diesem Prozess nabelt man sich naturgemäß ab und gewinnt ein eigenständiges Profil, das in vielem mit Sauer übereinstimmt, in anderem nicht.


Sauer und die Brüderbewegung

Frage: Die Einheit aller Gläubigen ist wohl das Kernthema der Brüderbewegung. Welche Vision verfolgte Sauer hier?

Afflerbach: Das Paradigma „allzumal einer in Christo Jesu“ hat Sauer derart internalisiert, dass er gar nicht anders konnte, als sich mit allen Kräften der praktischen Einheit der Kinder Gottes zu widmen. Das geschah sowohl bei der Zusammensetzung der Schüler der Bibelschule – sie wurde ja als Allianzschule in Berlin gegründet und hat immer Studierende aller Denominationen aufgenommen – als auch in seiner Offenheit Kreisen und Gemeinden gegenüber, die sich außerhalb der Brüderbewegung befanden. Er war eben ein echter Allianzmann, der zu allen evangelikalen Gemeinden Kontakt hielt und von ihnen auch eingeladen wurde. Jede Art von geistlichem und praktischem Separatismus war ihm fremd und bereitete ihm große Not. Die Einheit der Gläubigen wollte Sauer vor allem geistlich, nicht organisatorisch gewahrt wissen. Dieser Ansatz erlaubte ihm eine große Offenheit zu Christen außerhalb der Brüderversammlungen, obwohl er in ihnen verwurzelt war.

Frage: Wo positionierte sich Sauer im Spektrum der verschiedenen Richtungen der Brüderbewegung? Wo war er zu Hause, welche Kontakte pflegte er?

Afflerbach: Das ist ja das Paradox, dass eine Bewegung, die sich die Einheit der Gemeinde auf die Fahnen geschrieben hat, sich in unterschiedliche Richtungen aufteilt, die je für sich die wahre Lehre reklamieren. Sauer war ein echter Bruder, der – besonders durch die Prägung der Versammlung in Berlin (Hohenstaufenstraße) und durch seinen Nestor Johannes Warns – die Gemeinschaft zu allen Brüderkreisen suchte. Deshalb hat er die Vereinigung der Brüder und die Gründung des BfC 1937 als große Gnade und kirchengeschichtlich bedeutsames Datum empfunden. Auch der Gründung des BEFG 1941 stand er zunächst positiv gegenüber, revidierte seine Meinung aber nach dem Krieg. Zu Hause fühlte sich Sauer eindeutig bei den „offenen Brüdern“.

Frage: Nach dem Krieg saß Sauer einerseits „zwischen alle[n] Brüder-Fronten“ (S. 150). Mit Ausnahme der Raven-Brüder und der „geschlossenen Brüder“ waren für ihn die Gemeinden der Brüderbewegung in ihrer geistlichen Struktur aber ohnehin „ein Ganzes“ (S. 326). Ist die Schublade „offener Bruder“ zu klein für seine Haltung? 

Afflerbach: Sauer musste als „offener Bruder“ erleben, dass das „urbrüderische“ Ideal der geistlich-organischen Einheit aller Kinder Gottes bei gleichzeitigem Verzicht auf organisatorische und denominationelle Verwirklichung derselben in der Praxis gescheitert war. Er war es leid, sich nach dem Krieg in den kirchenpolitischen Auseinandersetzungen der „Brüder“ aufzureiben, und konzentrierte sich stattdessen auf seine Hauptanliegen: Heilsgeschichte und Mission sowie – als Neuformulierung – das Anliegen der Erweckung (vgl. seine Bücher Es geht um den ewigen Siegeskranz und In der Kampfbahn des Glaubens). In der Erweckung des Glaubens und der Mission sah er die einzige Chance, einer denominationellen und traditionalistischen Erstarrung des Brüdertums zu entkommen.

Frage: Sauer war der Auffassung, man müsse „dem Darbysmus [...] das Wort abschneiden“ (S. 102); manche alten Brüder, „die aus darbystischen oder anderen exklusiven Kreisen kommen“, trügen „den Exklusivismus wie einen Malariabazillus in sich“ (S. 102). Warum grenzte sich Sauer von den „geschlossenen Brüdern“ so deutlich ab, warum schämte er sich für den exklusiven Teil der Brüderbewegung (S. 339), warum hielt er ihn für nicht geistlich gesund (S. 326)?

Afflerbach: Sauer bewertete den Exklusivismus und den „darbystischen Tischkultus“ als eine „Ideologie“ (S. 339). Er sah im exklusiven Brüdertum einen Verrat an der neutestamentlichen Verwirklichung der Einheit des Leibes Christi. Durch die doppelte Absonderung der Exklusiven – von der Welt und von anderen christlichen Gemeinden – wurde die Einheit der gesamten Gemeinde gerade verhindert. Wer die Grenze – entgegen dem Evangelium – nicht nur zwischen Gläubigen und Ungläubigen, sondern auch zwischen Gläubigen und besonderen Gläubigen zieht, trägt faktisch zur Zerschneidung des Leibes Christi bei. Diese Absolutsetzung der eigenen Erkenntnis, gepaart mit einer Haltung geistlicher Arroganz, die echte Gemeinschaft mit allen Christen zerstört, widersprach Sauers Anliegen zutiefst.

Frage: Wo hob sich Sauer von typischen „Brüder-Positionen“ ab? Offensichtlich lehnte er z.B. den Einsatz hauptamtlicher Prediger nicht rundweg ab (S. 342).

Afflerbach: Was sind „typische Brüder-Positionen“? Angesichts des breiten „Brüder“-Spektrums weltweit lässt sich das nicht eindeutig bestimmen. Sauer hatte vollzeitlichen Mitarbeitern (Predigern oder Lehrern) gegenüber kein Problem, wenn sie keine herausragende Stellung für sich reklamierten. Aus seiner Arbeit als vollzeitlicher Lehrer an der Bibelschule und in Gemeinden sowie mit vollzeitlichen Missionaren war ihm der Gedanke des Vollzeitlers – auch in einer Ortsgemeinde – nicht fremd. Was ihm weitaus mehr zu schaffen machte, war das in vielen Gemeinden anzutreffende „allgemeine Rednertum“, das für ihn eine Karikatur des allgemeinen Priestertums darstellte.

In der Frauenfrage war Sauer seinerzeit weiter als viele seiner Zeitgenossen. Von der Aufhebung der getrennten Sitzordnung und der Pflicht zur Kopfbedeckung angefangen über das öffentliche Gebet bis hin zur Beteiligung im Dienst, mit Ausnahme von offiziellen Lehr- und Leitungsdiensten, sah Sauer viel Raum für Frauen in der Gemeinde.

Frage: Vertrat Sauer die Position der „Allversöhner“? Du deutest an, er habe privat der Allversöhnungslehre zugestimmt, sie jedoch offiziell kritisiert (S. 323, 380).

Afflerbach: Sauer lehnte die Allversöhnungslehre(n) strikt ab, weil er in ihr (ihnen) theologischen Vorwitz und systemischen Formzwang sah sowie eine Gefahr für die missionarischen Aufgaben der Gemeinde hier und jetzt. Gleichzeitig war er aber von dem universalen Heilswillen Gottes und seiner Liebe fest überzeugt und sah als ihr Endziel, dass „Gott alles in allem sein wird“ (1. Korinther 15,28). Die biblisch-theologische Spannung vom doppelten Ausgang und der Versöhnung des Alls hielt Sauer genauso aus wie die Überzeugung von der Souveränität Gottes bei seiner Erwählung und der persönlichen Verantwortung des Menschen bei seiner Bekehrung.


Heilsgeschichte

Frage: Sauer ist vor allem bekannt geworden mit seiner grafisch verdichteten Darstellung der Heilsgeschichte. Was genau bedeutet der Begriff der „Heilsgeschichte“ (für die herrschende Universitätstheologie bzw. für Dispensationalisten)?

Afflerbach: In der herrschenden Universitätstheologie hat man spätestens seit den 1970er Jahren empfohlen, auf den Begriff ganz zu verzichten und ihn nur noch unter theologiegeschichtlichen Aspekten zu verwenden. Man kann den Begriff weit und eng fassen. Im weiteren Sinn versteht man darunter Gottes Handeln als in der Geschichte erkennbares Wirken. Das kann aber hermeneutisch durchaus auch kritische Selektionen einschließen. Im engeren und klassischen Sinn versteht man unter Heilsgeschichte eine Theologie, „die durch die Zusammenfassung historischer, exegetischer und dogmatischer Arbeit das Gefühl eines einzigen Systems aufbaut und mit diesem System eine nachbildende Darstellung des offenbarungsgeschichtlichen Werdens selbst von der Schöpfung bis zum endgültigen Durchbruch des Gottesreiches geben will“ (G. Weth). Innerhalb dieser Definition gibt es ein Spektrum von strengen Dispensationalisten bis offenen, nicht-systemischen Ansätzen.

Frage: Sauer unterscheidet zwischen „allgemeinen Reichsregierungsgrundsätzen Gottes, welche sich durch alle Zeitalter hindurchziehen“, und sich in verschiedenen Perioden und Zeitaltern fortschreitend entfaltenden Offenbarungsgeschichten Gottes (S. 173). Letztere jeweils zeitweise geltenden „Haushaltungsgrundsätze“ gliedert er in sechs, später sieben Phasen. Gilt hier das Prinzip „Übertreiben macht anschaulich“ oder sind deiner Meinung nach diese von Sauer herausgearbeiteten Phasen auch in der Bibel deutlich unterschieden?

Afflerbach: Sauer kam es in erster Linie nicht so sehr auf die formale Einteilung der Heilsgeschichte an, sondern auf das Aufzeigen der großen offenbarungsgeschichtlichen „Linien“ des Heilshandelns Gottes, die man in Kontinuität und Diskontinuität erkennen kann. Das Hauptthema war für ihn nicht die Einteilung der Geschichte in einzelne Dispensationen, sondern das Reich Gottes! Deshalb stritt er auch nicht über die Anzahl der Haushaltungen, weil sich diese aus der Bibel selbst nicht stringent ergeben, sondern Versuche hermeneutischer Differenzierung darstellen.

Frage: Nun nimmt Sauer ja nicht nur eine „nachträgliche Strukturierung“ der Geschichte vor, sondern wagt auch einen Blick in die Zukunft. Welche theologischen Positionen vertritt er hier, welche Prägungen werden sichtbar?

Afflerbach: Sauer hat im eschatologischen Denken seiner Zeit eine Position eingenommen, die man theologisch – im Unterschied zum apokalyptisch-spekulativen Ansatz – futurisch-heilsgeschichtlich nennen kann (im Unterschied zu rein existentialen Ansätzen). Man kann Sauer weiterhin (um angelsächsische Paradigmen aufzunehmen) grundsätzlich als Prämillennialisten bezeichnen, d.h. er glaubte an ein wirkliches Millennium nach der sichtbaren Wiederkunft Christi. Die Frage, wann die Gemeinde entrückt wird – vor oder nach der oder mitten in der großen Trübsal oder gar in mehreren Etappen – lässt Sauer offen. Wichtiger sind ihm das Faktum selbst und die sich daraus ergebenden missionarischen und ethischen Konsequenzen für die Gemeinde. Ich versuche ihm daher in meinem Buch als einem Mann gerecht zu werden, der einen schmalen Grat zwischen dispensationalistischem Systemzwang und adispensationalistischer Offenheit geht.

Frage: Wie schlägt sich insbesondere Darbys Verfallslehre in Sauers Phasenlehre nieder?

Afflerbach: Sauer war – wie Darby – davon überzeugt, dass die Entwicklung der Menschen nicht „von unten nach oben“, sondern umgekehrt verläuft (Theologie vom Fall des Menschen). Im Unterschied zu Darby hat er aus diesem – übrigens nicht neuen (!) – Ansatz aber kein theologisches System gemacht, sondern die positive Perspektive der Geschichte im Blick auf das Ziel Gottes betont.

Frage: Sauer ist nicht der Erste und nicht der Einzige, der eine visualisierte Phaseneinteilung der Heilsgeschichte erstellt hat. Welche Vorläufer gab es, welche wesentlichen Nachfolger sind zu nennen?

Afflerbach: Ich habe im Anhang 7 meines Buches die Entwicklung der Wiedenester Heilskarte (die ja übrigens nicht auf Erich Sauer, sondern auf Johannes Warns und andere – Hans Legiehn hat sie gezeichnet – zurückgeht!), zu rekonstruieren versucht. Danach sind Warns und auch Sauer stark von Clarence Larkin und anderen angelsächsischen Theologen beeinflusst gewesen. Als Nachfolger kann man in gewisser Weise die heute in bestimmten Verlagen herausgebrachten Heilspläne und Materialien nennen. Sie gehen auf Sauer und seine Vorgänger zurück, beanspruchen aber – im Gegensatz zu Sauers Ansatz – oft dogmatische Zustimmung.

Frage: Du urteilst über Sauer: „Fachliche Kompetenz und kindlicher Glaube bildeten für ihn keine Widersprüche“ (S. 81). Adolf Köberle sagte 1937, Sauers heilsgeschichtliche Theologie werde von der wissenschaftlichen Theologie kaum beachtet werden, weil sie die Ergebnisse liberaler Forschung nicht verwerte (S. 18). Teilst du die Auffassung Pastor Modersohns, „was für die wissenschaftliche Theologie ein Mangel sein mag, das ist für gläubige Bibelleser ein Vorteil“, da Sauer die Bibel ernst nehme? Oder hätte eine wissenschaftlichere Herangehensweise zu anderen oder besseren Ergebnissen geführt?

Afflerbach: Das Problem ist nicht eine grundsätzlich wissenschaftliche Herangehensweise an die Bibel, sondern eine wissenschaftliche Auffassung, die von vornherein Offenbarung ausschließt wie der liberale Ansatz, der in der Theologie zur Zeit Sauers vorherrschend war! Die hat Sauer abgelehnt. Weil er von Haus aus kein Theologe war (siehe das Vorlesungsverzeichnis seiner Universitätszeit im Anhang 9 meines Buches) und den liberalen theologischen Ansatz nicht übernahm, war er für viele Theologen nicht kompatibel. Andererseits darf man das Kind nicht mit dem Bade ausschütten und theologische Wissenschaft von vornherein ablehnen – was Sauer ja nicht getan hat! Wenn er sich – wie es evangelikale Theologie heute versucht – aufgrund eines biblischen Ansatzes anderen theologischen Entwürfen ausgesetzt und sich mit ihnen auseinandergesetzt hätte, hätte er vielleicht manches anders formuliert (aber das sind Vermutungen). Auf jeden Fall ist Sauer sich seiner eigenen hermeneutischen Voraussetzungen bewusst gewesen und hat nicht dazu geneigt, seine eigene Meinung zu verabsolutieren.

Frage: Als der baptistische Oncken-Verlag in den 30er Jahren das Manuskript von Das Morgenrot der Welterlösung begutachten ließ, schrieb ein Gutachter in seiner Stellungnahme: „die Denkweise des Verfassers ist ‚speziell homiletisch‘. Das hat den Vorteil der ‚Unangreifbarkeit‘“ (S. 92). Ernst Schrupp sagte über Erich Sauer (S. 83): „Er lehrte nicht objektiv über die Sache, sondern die Sache selbst drängte ihn zum Lehren“. Sind Sauers Interpretationen der Heilszeiten wirklich so zwingend und überzeugend?

Afflerbach: Nein. Das hat Sauer selbst auch gar nicht beansprucht. Er hat viel studiert und exegetisch gearbeitet. Er hat seine Erkenntnisse einem großen Publikum vorgelegt und mit der Schrift zu begründen versucht. Viele seiner Schüler und Mitarbeiter waren in der Begegnung mit Sauer vor allem von seiner Demut angetan. Das zeigt, dass er durchaus zu differenzieren vermochte zwischen Wort Gottes und Erkenntnis des Wortes Gottes. Diese Haltung erlaubt es uns auch heute, sein Werk anhand der Bibel neu zu beurteilen und kritisch auszuwerten.

Frage: Wie du im Anhang 8 darstellst, konkurrieren ja durchaus verschiedene Phaseneinteilungen der „Heilszeiten“. Weist diese Uneinigkeit nicht darauf hin, dass die menschliche Strukturierung und Systematisierung göttlichen Handelns grundsätzlich auf wackligen Beinen steht? Entbehrt sie vielleicht sogar jeder Grundlage?

Afflerbach: Es ist zum einen wichtig, die menschlichen Strukturierungsversuche anhand der Bibel selbst zu relativieren. Die Bibel ist ja kein systemisches Nachschlagewerk, sondern ein Zeugnis von Gottes geschichtlichem Handeln. Wir finden in ihr zwar auch Einteilungen der Heilsgeschichte. Sprachwissenschaftlich interessant sind z.B. die im Hebräischen toledoth genannten Markierungen oder geschichtlich eben die Bundesschlüsse Gottes, am deutlichsten – und für uns am wichtigsten – natürlich die Unterscheidung zwischen Altem und Neuem Bund. Sie markieren eine Einteilung des Handelns Gottes in der Geschichte, die ein formales Einebnen der biblischen Aussagen nicht zulässt. Schon aus diesem Grund ist ein umfassendes und detailliertes heilsgeschichtliches System der Bibel nicht angemessen. An dieser Stelle bibeltreu zu sein, indem man die eigenen dispensationalistischen Einteilungen auf den Prüfstand des Wortes Gottes legt und sie von ihm hinterfragen lässt, scheint mir dringend geboten. Wir brauchen Gottes Heilsgeschichte nicht durch die Brille unserer eigenen dispensationalistischen Pläne zu sehen. Wir brauchen unseren heilsgeschichtlichen Ansatz nicht zu dogmatisieren, um als bibeltreu zu gelten. Das Wort Gottes spricht für sich. Wir können offen werden für neue Wahrnehmungen einer biblischen Theologie, ohne Angst haben zu müssen, das große heilsgeschichtliche Handeln Gottes in Schöpfung, Erlösung und Vollendung aufzugeben. Wir dürfen aber auch die großen Linien seines Planes nachdenken und darüber zur Anbetung und zum Dienst an der Welt kommen.

Zum anderen darf nicht vergessen werden, dass Sauer und andere aus pädagogisch-didaktischen Gründen Heilskarten entwarfen, um die komplexe Heilsgeschichte Gottes anschaulich zu machen. Dass das einerseits eine Hilfe sein kann, andererseits aber nicht ungefährlich ist, weil es zum Systemzwang führt, liegt auf der Hand.


Mission

Frage: Inwiefern ist für Sauer die Mission, sein zweites großes Thema, „heilsgeschichtlich begründet“ (S. 366)?

Afflerbach: Für Sauer ist Mission aktuelle Heilsgeschichte im Vollzug und Kernaufgabe der Gemeinde Jesu. Im Unterschied zu anderen Heilsgeschichtlern bewertet Sauer die Gemeinde nicht nur als Parenthese (Einschub) im Heilsplan Gottes, sondern als Ziel des Handelns Christi in der Zeit bis zu seiner Parusie. Insofern ist für Sauer „Mission das Größte, was jetzt in der Welt vorgeht“. Die Glieder des Leibes Christi sind „Mitarbeiter Gottes zur Durchführung seiner großen Reichspläne“. Durch seine heilsgeschichtliche Perspektive geht es für ihn in der Mission aber nicht um Christianisierung und Verwandlung der Welt, sondern um den Bau der Ekklesia. Die Bekehrung ganzer Völker erwartete Sauer – wie übrigens der Missionstheologe K. Hartenstein u.a. – für die Zeit des Millenniums. An dieser Stelle wird es missionswissenschaftlich sehr interessant. Hat Mission transformativen Charakter (D. Bosch) oder nicht? Muss sie die Gesellschaft verändern oder nicht? Oder sind das falsche Alternativen? Die ganze neu aufgebrochene Debatte unter Evangelikalen kam ja erst nach dem Tod Sauers.

Frage: Du beschreibst (S. 32), wie Sauer als Jugendlicher während eines Besuchs des Chinamissionars Ernst Kuhlmann seine „Berufung“, seinen Ruf in die Mission, erlebte. Er war aber danach eigentlich nur als Ausbilder von Missionaren, nicht als Missionar aktiv, oder?

Afflerbach: Das hat schlicht biografische Gründe. Seine Augenerkrankung und sein nicht ganz stabiler Gesundheitszustand zwangen ihn, von der konkreten Außenmission selbst Abstand zu nehmen. Seine Auslandsreisen haben ihn später mehr mitgenommen, als er sich selbst einzugestehen wagte. Außerdem hatte Warns den jungen Sauer nach seiner Erkrankung in Berlin recht schnell (1920) nach Wiedenest geholt und ihm als Lehrer weitere Aufgaben in der Bibelschule anvertraut. Sauer verstand sich mit Warns als jemand, der dem Werk der Mission durch die Zurüstung von Missionaren (Multiplikatoren) und die Reisen auf die Missionsfelder noch besser dienen konnte.

Frage: Sauer wandte sich gegen die, wie du schreibst, „im exklusiven Darbysmus eingeengte Vorstellung von Gemeinde als Versammlungs- oder Wortgemeinde“ (S. 345, ähnlich S. 351 in Bezug auf „Brüderkreise“ allgemein). Welches Idealbild von Gemeinde pflegte Sauer stattdessen (S. 346ff.)?

Afflerbach: Für Sauer ist Gemeinde die „Fortsetzung der Menschwerdung (Inkarnation) Jesu Christi“ (S. 345). Dieser theologische Ansatz von der Sendung Christi und seiner Gemeinde in die Welt trägt von vornherein einen anderen Schwerpunkt als der von der Versammlung aus der Welt heraus! Sauer hatte eher den Dreiklang von Sammlung – Zurüstung – Sendung der Gemeinde im Blick. Die Glieder der Gemeinde sammeln sich zu Jesus, lassen sich zurüsten zum Werk des Dienstes und lassen sich senden in die Welt hinein.

Frage: Sauer war stark sehbehindert, ihm wurde als Schüler ärztlicherseits ein Beruf nahegelegt, in dem er wenig lesen musste. Hätte der Kandidat Sauer mit diesem Handicap heutzutage eine Chance, Schüler der Bibelschule Wiedenest zu werden?

Afflerbach: Ja. Es gibt mittlerweile technische Möglichkeiten, trotz eines solchen Handicaps zu studieren, Texte zu erfassen und zu verfassen sowie praktische Arbeiten zu übernehmen. Es erfordert allerdings größte persönliche Disziplin. In diesem Jahr nehmen wir übrigens einen blinden Studierenden auf. 


Verhalten im Dritten Reich

Frage: Wie bewertest du Sauers ambivalentes Verhalten im Kontext des Dritten Reiches? Einerseits besuchte er an Hitlers Geburtstag bewusst ein jüdisches Museum (S. 138), andererseits betonte er die rassische Überlegenheit der Indogermanen und deren Anspruch als Weltherrscher (S. 133). Wie passt das zusammen?

Afflerbach: Es passt nicht! Der rassistische Ansatz, der sich auf 1. Mose 9,25 und 10 beruft und darin eine deterministische Erfüllung der Geschichte abgebildet sieht, kommt unter Missachtung wesentlicher heilsgeschichtlicher Neuordnungen – in Christus sind die Rassenunterschiede aufgehoben – zu dieser ambivalenten Haltung. Die gespaltene Bewertung der Juden als heilsgeschichtliches Volk Gottes einerseits und der Japhetiten als Herrscherrasse andererseits haben zu folgenschweren Fehleinschätzungen und unerklärbarem Verhalten in der Praxis geführt. Dass Sauer demonstrativ bei Juden einkauft, an Hitlers Geburtstag ins jüdische Museum geht, zeigt, dass er nicht antijüdisch eingestellt war. Dass er an ein heilsgeschichtliches Recht der arischen Herrscherrasse glaubte, zeigt das theologische Defizit seiner Heilsgeschichte und den tiefen Zwiespalt, der nicht aufgelöst werden kann und nicht harmonisiert werden darf.

Frage: Sauer hält die Bibel für den „Schlüssel zum Weltgeschehen“ (S. 130). Wie erklärst du dir, dass Sauers Bibelverständnis nicht zu einer Verurteilung der nationalsozialistischen Ideologie, sondern zu theologisch untermauerten rassistischen Aussagen führte?

Afflerbach: Offensichtlich fehlten Sauer und anderen trotz ihrer biblischen Erkenntnis die theologischen und prophetischen Kriterien, wie sie etwa bei Theologen wie Barth und Bonhoeffer und Mitgliedern der Bekennenden Kirche vorhanden waren. Wenn man die Beurteilung des Dritten Reichs einmal als Testfall des Bibelverständnisses sieht, dann haben viele Brüder und auch Sauer versagt. Ihr Bibelverständnis muss auf den Prüfstand und hinterfragt werden. Das hat man bis heute – glaube ich – nicht wirklich getan, wenn man von dem Schuldbekenntnis eines kleinen Teils der Brüder 50 Jahre danach einmal absieht. Hier rächen sich m.E. ein zu einseitiges Verständnis von Römer 13, das die Obrigkeit ausschließlich als von Gott eingesetzt sieht, und das Fehlen einer evangelischen Sozialethik, die das Verhältnis von Gemeinde und Welt biblisch-theologisch reflektiert. Zusammengenommen kann das eine „naive“, d.h. unkritische politische Haltung ergeben, die entweder zur Anpassung an das System führt oder – im Gefolge Darbys – zu einem völligen Heraushalten aus der politischen und gesellschaftlichen Welt. Texte wie 1. Petrus 2,13, die die Obrigkeit als „menschliche Schöpfung“ verstehen und im Ansatz einen geistlichen Widerstand ermöglichen (vgl. Petrus in Apostelgeschichte 5,29), lassen einen kritischeren Umgang mit bestehenden Verhältnissen zu. Texte wie Offenbarung 13, in denen die antichristliche Perversion des Staates beschrieben wird, wurden (und werden immer noch) von vielen Brüdern als für die Gemeinde irrelevant betrachtet, weil diese ab Kapitel 4 schon im Himmel ist und die Hochzeit des Lammes feiert. Obwohl Sauer das so nicht explizit gesagt hat, hat er diese Haltung der Brüder aber – aus welchen Gründen auch immer – nicht abgewehrt. Daher hat er sich von dem heilsgeschichtlich denkenden Missionstheologen K. Hartenstein den Vorwurf „verwilderter Eschatologie“ machen lassen müssen.

Frage: Stimmt es, dass Sauer nach dem Krieg bei Folgeauflagen rassistische Passagen aus seinen Büchern entfernt hat? (S. 139f.)

Afflerbach: Sauer wurde durch die unwiderlegbaren Fakten der Geschichte gezwungen, in den Nachkriegsauflagen die bis dahin von ihm geleugneten Pogrome anzuerkennen und die Zahlen ermordeter Juden zu revidieren. Sein heilsgeschichtliches Rassenprogramm hat er allerdings nie zurückgenommen.

Frage: Er hat also seine rassistischen Einschätzungen, seine Begeisterung für Hitler in der Nachkriegszeit nicht bedauert oder öffentlich zurückgenommen?

Afflerbach: In einem Brief vom 11. Januar 1946 hat Sauer dem damals in Allianzkreisen bekannten Pastor Friedrich Heitmüller gegenüber sein großes Bedauern über die Leugnung der Pogrome in seinen Büchern zum Ausdruck gebracht. Öffentlich – und selbst seinem engsten vertrauten Mitarbeiter Ernst Schrupp gegenüber – hatte er sich aber nie geäußert. Es fiel dieser Generation offensichtlich unheimlich schwer, ihr Verhalten in der Nazizeit aufzuarbeiten und öffentlich zu bekennen, wie viele prominente und weniger prominente Beispiele – auch in unseren Tagen – zeigen. Der Wille und die Fähigkeit zu einer Kultur der kritischen Aufarbeitung der eigenen Geschichte und Theologie fehlten lange Zeit auch in weiten Kreisen der „Brüder“. Ein stark ausgeprägtes Selbstverständnis von der reinen Lehre, der wahren Erkenntnis und der biblischen Gemeinde kann leicht blind machen für die Realitäten.


Heutige Bedeutung

Frage: Du arbeitest seit 1985 an der Wirkungsstätte Sauers, an der Bibelschule Wiedenest, als Dozent. Wo ist dort sein Einfluss heute noch spürbar?

Afflerbach: Im Wesentlichen teilt man – unter Absehung von seinen fragwürdigen Aussagen – grundsätzlich das heilsgeschichtliche Verständnis Sauers wie viele Evangelikale auch, also das Vertrauen in die Heilige Schrift, den Glauben an Christus als Versöhner, seine Wiederkunft, die Notwendigkeit der persönlichen Heilsaneignung in Glaube und Bekehrung, den Gemeindebau und die Verpflichtung zur Mission usw. Man unterstützt die biblisch-theologische Arbeit, die sich auch wohlwollend-kritisch mit den Vätern auseinandersetzt und ihre Erkenntnisse ggf. revidiert.

Frage: Wenn ich es richtig sehe, sind Sauers Bücher derzeit nicht erhältlich. Woran liegt das?

Afflerbach: Sie lassen sich so nicht mehr verkaufen. Sprache, Stil, die erwähnten überholten wissenschaftlichen Bewertungen und fragwürdige theologische Aussagen lassen weitere unbearbeitete Auflagen nicht mehr zu. Man müsste Sauers Anliegen neu schreiben. Im angelsächsischen Bereich sind Sauers Bücher aber noch in Englisch erhältlich.

Frage: Du schreibst über Sauers Publikationen: „Viele Aussagen sind exegetisch fragwürdig, andere schlichtweg falsch“ (S. 383). Vieles haben wir schon angesprochen, was würdest du zusammenfassend als „gravierende Irrungen“ (S. 385) bezeichnen?

Afflerbach: Das heilsgeschichtliche Rassenprogramm lässt sich nicht biblisch begründen, die Restitutionstheorie ist exegetisch nicht zu halten, das Modell einer theistischen Evolution als Interpretation des biblischen Schöpfungsgedankens nicht nötig. Als gravierende Irrungen sind seine Fehleinschätzungen im Blick auf Hitler und das Dritte Reich zu nennen.

Frage: Welche Inhalte von Sauers Lebenswerk empfiehlst du heutigen Lesern, was ist noch aktuell und hilfreich?

Afflerbach: Im Grunde kann unter Absehung von den oben genannten kritischen Artikeln das Werk Sauers immer noch eine Hilfe für einen gesamthaften Einblick in die Offenbarungsgeschichte Gottes des Alten und Neuen Testaments sein. Es kann helfen, trotz der vielen unterschiedlichen, widersprüchlichen und komplexen Aussagen der Bibel zu differenzieren und den unaufgebbaren Zusammenhang von Altem und Neuem Testament sowie den roten heilsgeschichtlichen Faden des Wirkens Gottes zu erkennen. Es kann zeigen, wie das Alte Testament offen ist auf die Ankunft und den Triumph des Gekreuzigten hin. Die hohe Stellung und Aufgabe der Gemeinde wird beschrieben. Eine große Zukunft, die über die persönlichen und weltpolitischen Probleme des Heute hinausweist und Hoffnung gewinnen lässt, wird aufgezeigt. Und nicht zuletzt wird Gott groß gemacht in seinem Wirken. Die Bücher können auch heute noch zur Anbetung Gottes führen.


Die Fragen stellte Ulrich Müller. Das Interview wurde im August 2006 geführt.
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