Interview mit Willem J. Ouweneel (2)

Der „Guru“, der alle Antworten kennt?

Frage: Wenn Sie sagen, dass zeitliche Distanz für eine fundierte Einschätzung notwendig ist, konzentrieren wir uns vielleicht zunächst einmal auf eine frühere Phase Ihres Lebens. Wir haben zur Strukturierung des Interviews anhand des Bildes, das man unserer Wahrnehmung nach in Deutschland von Ihnen hatte bzw. hat, grob drei Phasen unterschieden. In der ersten dieser Phasen, beginnend Mitte der 70er Jahre, wirkten Sie auf viele – überspitzt gesagt – wie ein „Guru“, der alle Antworten kennt. Sie haben ja schon als junger Mann Vorträge in Versammlungen gehalten.

Ouweneel: Richtig, mit 25 Jahren habe ich die ersten überörtlichen Vorträge gehalten.

Frage: Hatten Sie es schwer, in diesem Alter akzeptiert zu werden?

Ouweneel: Nein, in Holland war das überhaupt kein Problem. Nur die Deutschen machten Schwierigkeiten. Da bestanden schon große Unterschiede. Als ich 28 oder 29 war, sprachen einige führende Brüder aus Deutschland H.L. Heijkoop mit vier Sorgen an: Erstens gebe es bei uns in der Versammlung Leute, die einen Fernseher hätten; zweitens sei ich so jung; drittens brächte ich solche großen Säle zusammen; und viertens bestehe die Gefahr von Überheblichkeit und Hochmut. „Na“, antwortete Heijkoop darauf trocken, „mit dem Jungsein, das wird jeden Tag besser. Mit den vollen Sälen – ja, wenn die Leute da hinkommen wollen, kann er doch auch nichts dafür. Und was den Hochmut angeht, da müssen wir alle aufpassen.“ Von Fernsehern wusste er nichts, das traf übrigens auch nicht zu.

Bruder Hermann Thomas war stolz darauf, dass er erst mit 57 angefangen hatte zu predigen! So etwas haben wir in Holland nie gekannt. Auch der Umgang zwischen älteren und jüngeren Brüdern war hier immer anders.

Frage: Aus Ihrem „Nachtboek van de ziel“ [Nachtbuch der Seele] geht hervor, dass Heijkoop eine Art Mentor für Sie war. Offensichtlich hat er Ihnen auch geholfen, in eine bestimmte Position hineinzukommen und akzeptiert zu werden. Im „Nachtboek“ schreiben Sie ja auch, dass Sie ab einem gewissen Zeitpunkt von einigen als „zweiter Darby“ angesehen wurden.

Ouweneel: Ja, das munkelte man hier und da.

Frage: Wo stand Heijkoop im Spektrum der niederländischen Brüderbewegung? War er ein Repräsentant der eher rechten Strömung?

Ouweneel: Heijkoop war in Deutschland links und in Holland rechts.

Frage: Seltsam, oder?

Ouweneel: Nein, das ist gar nicht seltsam. Man könnte überspitzt sagen, dass wir Holländer historisch gesehen in der Nachkriegszeit die falsche Seite gewählt haben. Wir hätten von der Atmosphäre und von der Offenheit her eigentlich von Anfang an viel besser zu den „Freien Brüdern“ gepasst. Aber das ging nun einmal nicht; wir waren ja nach wie vor mit den deutschen „geschlossenen Brüdern“ in Abendmahlsgemeinschaft, und damals war ja auch in Holland die Kluft zwischen „geschlossen“ und „offen“ noch sehr groß. Aber lange Zeit war es sicher so, dass die holländischen Versammlungen besser zu den deutschen „Freien Brüdern“ gepasst hätten als zu den deutschen „geschlossenen Brüdern“ (jetzt auch nicht mehr, weil die „Freien Brüder“ sich auch kaum mehr bewegen; da herrscht eher Stillstand als Brüder„bewegung“). In Holland war die Offenheit auch gesellschaftlich immer viel größer als in Deutschland. Das erklärt, warum jemand wie Bruder Heijkoop in Deutschland als links galt (vielleicht schon allein deshalb, weil er Holländer war, ich weiß es nicht, aber er machte auch wirklich nicht bei allem mit, was die führenden Brüder in Deutschland taten), während er in Holland die rechte Strömung vertrat.

In Holland gab es damals drei Strömungen innerhalb der Brüderbewegung: eine sehr rechte, konservative Strömung, vertreten durch Heijkoop; eine mittlere Strömung mit Bruder Wilts und Bruder Medema (dem Vater von Henk Medema); und eine linke Strömung, die leider in den 70er Jahren größtenteils aus den Versammlungen verschwunden ist; die konnten es einfach nicht mehr aushalten. Man kann sagen, dass die rechte Strömung heute die sind, die sich von uns getrennt haben. Da ihr Persönlichkeiten wie Bruder Heijkoop fehlten, waren das zum Schluss nur noch sehr wenige. Damals wäre das ganz anders gewesen! Bruder Heijkoop hat sein ganzes Leben davon gesprochen, dass es eine Trennung unter den „Brüdern“ geben würde. Hätten er und Bruder Wilts noch gelebt, als es dann tatsächlich zur Spaltung kam, wäre vielleicht einiges anders verlaufen. So aber zogen sich – menschlich gesagt: zum Glück – nur wenige zurück. Die Mehrheit der holländischen „Brüder“ steht jetzt ungefähr da, wo damals die linken Brüder standen. Die kamen einfach zu früh. Ich habe das später mit einigen von ihnen besprochen, teilweise habe ich mich auch entschuldigt, obwohl ich in den 70er Jahren natürlich noch sehr jung war.

Frage: Wo waren Sie selbst in diesem Spektrum der Richtungen innerhalb der Brüderbewegung einzuordnen?

Ouweneel: Eine sehr interessante Frage! Mein Vater stand etwas links von der Mitte. Eigentlich war er der mittleren Gruppe zuzurechnen, aber er stand doch etwas links, was man zum Beispiel daran sehen kann, dass er Jugendarbeit machte. Das galt schon immer als links. In allen Versammlungen, wo er war, hat er Jugendstunden ins Leben gerufen.

Ich selbst war da noch ganz naiv. Einerseits bewegte ich mich mit im Strom meines Vaters. Es gab da zum Beispiel jedes Jahr eine große Jugendtagung, zu der 600 bis 700 junge Leute kamen. Ab und zu merkte ich, dass die rechte Seite ganz dagegen war, aber das war mir damals noch nicht richtig bewusst.

Damals war alles noch, wie es auf Holländisch heißt, „verzuild“: Es gab eine calvinistische Säule, eine katholische Säule, die „Versammlung“ usw. Wir hatten, aus der „Versammlung“ kommend, fast überhaupt keinen Kontakt mit anderen Gläubigen. Man kannte nur die „böse Welt“. Es war uns zwar klar, dass es auch andere Christen gab, aber genauso klar war, dass die sich alle irrten. Diese „Versäulung“ war damals in Holland sehr stark; in Deutschland ist das zum Teil immer noch zu beobachten. In Holland ist das zum Beispiel durch die gemeinsame Arbeit im Evangelische Omroep (Evangeliumsrundfunk) schon lange nicht mehr so.

Auf der einen Seite machte ich also all diese Dinge mit, es gab Jugendwochenenden, wo sich die linke Strömung profilierte, aber auf der anderen Seite verehrte ich Bruder Heijkoop sehr und arbeitete eng mit ihm zusammen, zum Beispiel indem ich für seine Zeitschrift „Uit het Woord der Waarheid“ Beiträge schrieb. Ich sehe erst im Nachhinein, dass ich da eine ganz merkwürdige Stellung hatte.

Frage: Sozusagen zwischen den Welten.

Ouweneel: Ja, ich machte in allen Bereichen mit. Aber allmählich habe ich mich dann immer weiter in die Richtung von Bruder Heijkoop entwickelt. Bruder Wilts sagte mir voraus, dass Heijkoop mich eines Tages, wenn ich nicht mehr ganz auf seiner Linie sein würde, wie eine heiße Kartoffel fallen lassen würde. Und so ist es tatsächlich dann auch passiert. Aber das ist eine Geschichte für sich.

Frage: Wie würden Sie den Einfluss, den Bruder Heijkoop auf Sie hatte, beschreiben?

Ouweneel: Ich denke, dass ich ziemlich naiv war. Aber ab und zu prallten die Welten aufeinander. Ich erinnere mich, dass ich einmal von der Konferenz in Winschoten nach Hause kam – wir hatten eine wunderbare Konferenz gehabt –, und mein Vater hatte seinen besten Freund zu Besuch, Jan Bruijn. Das war ein ausdrücklicher Vertreter der linken Seite, ein hochinteressanter Mann, der auch lange im Vorstand des Evangeliumsrundfunks war. Er war links in dem Sinne, dass er machte, was er wollte, und in der christlichen Welt führende Stellungen einnahm. Vielleicht kennen Sie ihn gar nicht, er kam nicht zu den Konferenzen nach Deutschland. Aber gelegentlich ging er zu den Konferenzen nach Den Haag, wo Bruder Heijkoop es dann leider ab und zu fertig brachte, ihn fertig zu machen. Ich kam also nach Hause, und dann fing Bruder Bruijn an, Bruder Heijkoop zu kritisieren. Im Nachhinein sage ich natürlich: Er hatte Recht! Aber damals führte es zu einer gewaltigen Spannung in mir, ich reagierte sehr stark darauf, weil mir plötzlich bewusst wurde, dass das zwei Welten waren: einerseits dieser Bruder Jan Bruijn (und teilweise auch mein Vater, obwohl der doch mehr eine mittlere Position einnahm) und andererseits Winschoten. Eigentlich liebte ich diesen Mann sehr. Ich liebte beide, Bruder Heijkoop und Bruder Bruijn, das ist ja das Komische, deshalb war ich nicht so einfach einzuordnen. Das Schubladendenken habe ich immer abgelehnt.

Frage: Sie waren keiner Schublade zuzuordnen?

Ouweneel: Jedenfalls nicht ausschließlich! Ich machte überall mit, ich beteiligte mich auf den Konferenzen, ich arbeitete auch bei den Jugendfreizeiten mit, die aber irgendwann auseinander brachen, weil da besonders die linken Führer engagiert waren, die später vielfach die Gemeinden verließen. Also, ich war eigentlich überall dabei.

Frage: Waren das für Sie unvereinbare Welten, oder suchten Sie sozusagen einen übergreifenden Querschnitt eigentlich getrennter Säulen? Sie haben ja zum Beispiel auch beim Evangeliumsrundfunk mitgearbeitet.

Ouweneel: Ja, genau! Beim Evangeliumsrundfunk habe ich schon sehr früh mitgemacht. Vorher hatte ich mit Bruder Heijkoop darüber gesprochen, und er sagte mir: „Wenn die anderen Beteiligten gefestigten Frieden mit Gott haben ...“ (das war so ein „Brüder“-Ausdruck). Manchmal hatte er ganz freizügige Momente. Daran sieht man, dass auch er nicht so einfach einzuteilen war. Auch mein Engagement in der Evangelischen Hochschule ab 1976 habe ich vorher mit ihm besprochen. Auch da war er komischerweise freizügig. Er selbst hätte so etwas nie gemacht, aber er sah wohl, dass man mich nicht in eine Schublade einsperren konnte.

Ich habe also von Anfang an in allen Bereichen mitgemacht. Aber diese Seiten bekam man in Deutschland nicht so zu sehen, dort sah man nur die rechte Seite. Wenn ich nach Deutschland kam, um Vorträge über biblische Themen zu halten, habe ich mich deshalb immer in einer Zwickmühle gefühlt. Manchmal, wenn wir dann alle mit schwarzen und grauen Mänteln zur Konferenz zogen, kam ich mir auch ein bisschen blöd vor. Da fühlte ich: Das ist ein Teil von mir, denn wir werden ja über die Bibel reden, und das machte ich gerne, ich war ein kleiner Theologe, aber es war nur ein Teil von mir. Es war eine innere Verleugnung anderer Teile. Und das haben die meisten in Deutschland nie gesehen. Natürlich habe ich mich geändert, aber weniger, als viele meinen, weil eigentlich alles schon in mir steckte.

Hinzu kam meine Neigung, mich in Gurus zu verlieben. Ich habe das in meinem „Nachtboek van de ziel“ näher beschrieben. Bruder Heijkoop war sicher so ein Guru. Ohne seinen starken Einfluss wäre meine Entwicklung gewiss anders verlaufen. Aber ich hatte von Anfang an auch Perioden, in denen mich andere Gurus beeinflussten, auch solche, die nicht der „Versammlung“ zuzurechnen waren, zum Beispiel Francis Schaeffer und C.S. Lewis oder auch die christlichen Philosophen hier in den Niederlanden. 1986 promovierte ich in der christlichen Philosophie; mein Doktorvater, der mich dabei begleitete – er ist etwa im Alter meines Vaters –, war eigentlich auch ein Guru, aber wieder nur auf einem Teilgebiet! Alle diese Gurus habe ich innerlich – „überwunden“ hört sich ein bisschen überheblich an; sagen wir, sie sind ein Teil von mir selbst geworden, und ich habe mich insgesamt weiterbewegt. Mit T.B. Joshua wird es wieder genauso gehen: Das wird ein Teil von mir, ein sehr wichtiger, eine Bereicherung. Aber ich muss weiter. Immer wieder gibt es neue Überraschungen. Wenn es die einmal nicht mehr gibt, bin ich alt.

Frage: Bei den „geschlossenen“ Versammlungen in Deutschland ist implizit, teilweise auch explizit häufig die Überzeugung zu erkennen, nur bei ihnen sei „der Herr in der Mitte“, nur bei ihnen sei die „Erkenntnis der Wahrheit“. Und was die Bibelkenntnis angeht, solle man sich am besten auf Literatur aus ihren Kreisen beschränken. Sie hatten Ihren Erläuterungen zufolge solche Scheuklappen nicht, sondern eher eine weite Perspektive. War das typisch holländisch oder typisch Wim Ouweneel?

Ouweneel: Nein, das war typisch für einen großen Teil der holländischen „Brüder“. Andererseits weiß ich noch, dass ich Anfang der 80er Jahre auf der Konferenz in Winschoten – Bruder Heijkoop war zu dieser Zeit noch voll aktiv – eine Bemerkung machte, dass wir uns nicht so sehr Gedanken darüber machen sollten, ob der Herr auch bei anderen in der Mitte sei, sondern es komme darauf an, dass wir selbst sicher seien, die schriftgemäßen Bedingungen zu erfüllen, damit er bei uns in der Mitte ist. Da sprang Heijkoop auf und sagte klipp und klar und eindeutig (ich zuckte zusammen, das ging mir gegen den Strich), dass der Herr nur bei uns in der Mitte sei und dass wir das auch ganz klar bezeugen sollten. Diese Erinnerung ist mir wichtig, weil ich dadurch weiß, dass ich dieses Schubladendenken schon Anfang der 80er Jahre nicht hatte – eigentlich habe ich mir das nie so vorstellen können, der Herr sei nur bei uns. Das ist so kleingeistig gedacht, so engstirnig, fast kleinbürgerlich!

Als ich in Utrecht anfing zu studieren und mit anderen gläubigen Studenten in Berührung kam, war das eine große Bereicherung für mich. Ich merkte, dass viele von ihnen viel treuere, aktivere und lebhaftere Christen waren als ich selbst, obwohl sie zu anderen Gemeinschaften gehörten. Das brachte mich damals dazu, einiges ganz neu zu durchdenken. Aber in Deutschland sind zum Teil die einfachen Arbeiter und Bauern „Brüder im Werk des Herrn“ geworden; die haben diesen Überblick nie gehabt, die haben kaum andere Christen kennen gelernt.

Frage: Das heißt also: Dieses Bild, das man in Deutschland damals von Ihnen hatte oder noch heute von Ihrer Frühzeit hat, dass Sie ein völlig überzeugter „Exklusiver“ waren, ist in dieser Form überhaupt nicht zutreffend?

Ouweneel: Ich war sicher ein exklusiver Bruder. Ich war ein Heijkoopianer. Das ist aber schwierig zu quantifizieren! Ich war sicher ein exklusiver Bruder, aber nicht so schlimm, wie man sich das vorstellte. Man wollte mich immer vereinnahmen, nach dem Motto (auch das ist wieder Schubladendenken): „Er gehört zu uns!“ Als ich zum ersten Mal im Evangeliumsrundfunk gesprochen hatte, nahm mich in Winschoten ein Bruder zur Seite und fing an zu weinen: „Wir hatten gedacht, du wärst wie Bruder Heijkoop! Und jetzt das!“ Und das war schon in den 70er Jahren, das kann man anhand der veröffentlichten Vorträge nachprüfen.

Frage: Aber im „Nachtbuch“ sagen Sie zum Beispiel auch – das Paulus-Wort aufgreifend –, dass Sie in der Brüderbewegung mehr Fortschritte machten „als viele meiner Zeitgenossen, als leidenschaftlicher Eiferer für die väterlichen Überlieferungen“. Das heißt, Sie standen schon ein Stück weit dahinter.

Ouweneel: Ja sicher, natürlich! Aber nicht – das hoffe ich jedenfalls – mit dieser Engstirnigkeit. Das ist schwierig auseinander zu halten. Ich muss aufpassen, dass ich jetzt im Nachhinein auch ehrlich bleibe. Wie schlimm war es wirklich? Das ist auch nicht mehr so einfach festzustellen. Man sieht ja immer die Zeit von damals durch die Brille von heute. Deshalb ist es auch sehr schwierig, ein objektives Bild zu bekommen, obwohl ich das gerne hätte. Ich sehe zurückblickend immer eine Spannung: Ich war sicher sehr exklusiv, aber ich habe von Anfang an bei der Evangelischen Hochschule mitgearbeitet, und das hat nie zu Spannungen geführt. Ich war Chefredakteur einer christlichen Zeitschrift, „Bijbel en Wetenschap“ [Bibel und Wissenschaft], ich habe ungefähr seit 1976 beim Evangeliumsrundfunk mitgearbeitet. Ich war voll und ganz bei „Ichthus“ engagiert, das ist die evangelikale Studentenbewegung in Holland. So schlimm war es also nie! Ich habe mich vielfältig engagiert, das aber auch nicht überall in Deutschland herumposaunt.

Frage: Sie sprachen vorhin von den verschiedenen Strömungen in der niederländischen Brüderbewegung. Wurden diese auch durch die Zeitschriften repräsentiert? Kann man sagen, dass der „Bode“ in den 70er Jahren eher für die mittlere Strömung stand?

Ouweneel: Ja. „Uit het Woord der Waarheid“ repräsentierte die rechte Strömung, und die linke Strömung hatte keine eigene Zeitschrift.

Frage: Es ist auffällig, dass Sie erst ab ungefähr 1980 regelmäßig im „Bode“ mitgearbeitet haben.

Ouweneel: Ja. Meine ersten Artikel im „Bode“ erschienen zwar schon 1967, als ich 23 war (die sind jetzt auch in dem Sammelband „Jezus volgen“ [Jesus folgen] enthalten, den Henk Medema als Überraschung zu meinem 60. Geburtstag herausgegeben hat), aber danach habe ich erst in den 80er Jahren wieder im „Bode“ geschrieben. Der Grund dafür war einfach, dass ich ständig in „Uit het Woord der Waarheid“ (und in „De Morgenster“) veröffentlicht habe. Die Prägungen waren doch sehr verschieden, es wäre nicht leicht möglich gewesen, parallel in beiden Zeitschriften zu schreiben. Das tat damals auch keiner der Autoren. Daran sieht man wieder, dass die Brüderbewegung innerlich wirklich zerteilt war. Ich schrieb in „Uit het Woord der Waarheid“, bis Heijkoop mich fallen ließ, weil ich Dinge schrieb, die ihm nicht mehr gefielen. Er warf mir vor, von Charles A. Coates (einem Raven-Bruder, den ich aber immer sehr geschätzt habe) abgeschrieben zu haben. Komischerweise hatte Bruder Heijkoop mich selbst auf ihn gebracht: Als ich damals an dem Buch „Gedanken zum Schöpfungsbericht“ schrieb und ich ihn fragte, was für Bücher er darüber hätte, gab er mir auch Coates mit. Er hatte Coates sogar selbst in vielen seiner Bücher verarbeitet (zum Beispiel in seinem Buch über Ruth oder in „Die Opfer“). Deshalb war ich darüber auch so bestürzt, dass er sagte: „Nein, das hast du von Coates abgeschrieben, das geht nicht.“ Er sprach in Deutschland öffentlich verunglimpfend über Coates, während ich wusste, dass er das alles selbst gelesen und auch verwertet hatte.

Frage: Quellenangaben sind ja bis heute eher unüblich in Veröffentlichungen der Brüderbewegung.

Ouweneel: Genau. Aber deshalb fand ich das so gemein, deshalb war ich so enttäuscht. Bruder Wilts hatte Recht mit seiner Voraussage, Heijkoop würde mich irgendwann fallen lassen. Es war zu Ende, als ich nicht mehr mitmachen wollte, wie er es wollte. Mein Verhältnis zu Heijkoop ist dadurch getrübt, aber zum Glück nicht feindselig geworden. Er war damals auch schon alt und oft in Kanada, also „außer Sicht“.

Frage: Seine letzten Jahre verlebte er ja in einem Altenheim in Bonn.

Ouweneel: Ja, aber zuletzt war er geistig gar nicht mehr dabei.

Frage: Sie hatten eine Zeit lang hier und da das Image, ein „zweiter Darby“ zu sein. Man hielt Sie für jemanden, der „die Antworten wusste“. Das galt für eine Vielzahl von Themen, vor allem für biblische Fragen. Wie kam es zu diesem Image? Oder war das auch nur eine Wahrnehmung aus Deutschland?

Ouweneel: Das hängt mit der ganzen Volksart zusammen, das wäre eine Lektion für sich. Holland hat in Europa immer eine Sonderstellung eingenommen, weil wir nie starke Könige, Kaiser oder Führer gehabt haben. Holland ist ein Land von Bürgern. Ein Beispiel: Beim Westfälischen Frieden 1648 wurde Holland unter all den Königen und Kaisern von Bürgern vertreten. Holland war immer schon eine echte Bürgergesellschaft. Und das heißt auch: Wir sind alle gleich. Die Adeligen hatten hier nie viel zu sagen, sondern die vornehmen Bürger. Auch als wir nach der Französischen Revolution Königreich wurden, war für eine Zentralmacht überhaupt kein Platz. Aufgrund des Bewusstseins der Gleichheit wäre eine Führerverehrung undenkbar gewesen.

Frage: Die Idee der Gleichrangigkeit erinnert an den ursprünglichen Ansatz der Brüderbewegung in England und Irland.

Ouweneel: Ja, aber irgendwann war auch das nur noch eine Theorie, da Darby sehr schnell eine päpstliche Stellung bekam. Ehrlicherweise muss ich sagen, dass das auch für Holland gilt: Die Stellung von H.C. Voorhoeve und J.N. Voorhoeve war auch nicht anders als die von Carl Brockhaus und Rudolf Brockhaus in Deutschland. Aber nach dem Zweiten Weltkrieg hat es diese Führer nicht mehr gegeben.

Frage: War Heijkoop keine Führungspersönlichkeit?

Ouweneel: Schon, aber sein Schwager Wilts stand ihm als zweiter Führer stark gegenüber. Es waren unterschiedliche Führer, die jeweils ihre Strömungen hatten. Also, in Holland gab es keine menschliche Verehrung eines „zweiten Darby“. Hier lief alles viel nüchterner ab. In Deutschland dagegen gab es einerseits Verehrung, andererseits aber auch Sensationsgier, wenn ich als junger Bruder vor vollen Sälen predigte; denn aus deutscher Sicht war ich ungewöhnlich jung. Deshalb wird es sicher auch nicht immer so geistlich gewesen sein, dass ich gerne nach Deutschland kam – ich wurde unheimlich geschätzt. Allerdings war so auch mein späterer Fall viel größer: Zuerst ist man „on the hill“, dann „down the hill“. Daher wird in Deutschland, was meine Person angeht, der Unterschied zwischen damals und heute auch als viel größer wahrgenommen als in Holland.

Frage: Dass Sie in den 70er Jahren in Deutschland nur einseitig wahrgenommen wurden und dass das Bild, dass Sie „treu rechts“ standen, in Wirklichkeit gar nicht zutraf, sind sicher Aspekte, die in Deutschland bisher nicht allgemein bekannt sind.

Ouweneel: Es war eine Seite von mir, die sicher auch vorhanden war (ich habe mich ja nicht verstellt), aber es war nur eine aus einem größeren Rahmen herausgegriffene Seite. Man kannte meine anderen Seiten nicht. Deshalb waren einige auch sehr erstaunt, als sie hörten, dass ich 1986 in Philosophie promoviert hatte. Das passte überhaupt nicht zu dem Bild, das man damals noch von mir hatte. Vielleicht hat man auch einfach über gewisse Anzeichen hinweggesehen, oder man wusste nichts damit anzufangen. Andererseits: Idiotische Gerüchte hat es immer gegeben. Ende der 70er oder Anfang der 80er Jahre sagte mir zum Beispiel ein Bruder: „Wim, was habe ich gehört? Du hast dich den Raven’schen Brüdern angeschlossen?“ Ein anderer Bruder fragte mich: „Wim, was habe ich von dir gehört? Du hast einen Fernseher, die Brüder sind zu einem Gespräch darüber zu dir gekommen, und du hast über ihre Ermahnungen nur gelacht?“ Ich hatte damals noch keinen Fernseher, hatte also auch keinen Brüderbesuch deswegen. Es bestürzte mich, ich wusste nicht, wie man auf solche idiotischen Dinge kam. Und das sind nur paar Beispiele aus einer ganzen Reihe. Ich hatte einmal angefangen, eine Liste aller Gerüchte über mich zusammenzustellen, aber das habe ich schnell wieder aufgegeben. Deshalb sagte ich später auch: 90 % der Informationen über mich treffen überhaupt nicht zu. Ich kann auch keinem übel nehmen, dass er negativ über mich denkt, wenn ich sehe, was für Geschichten über mich kursieren.

Frage: Sie sagen also, dass Ihnen zu Unrecht ein völliger Umschwung vorgeworfen wird, da Sie die Elemente, die später auch in Deutschland verstärkt wahrgenommen wurden, schon vorher in sich trugen. Gilt das auch für Ihr Interesse zum Beispiel an der Philosophie, oder gab es schon deutliche Interessenverlagerungen?

Ouweneel: Natürlich, zum Teil trifft das auch da zu.

Frage: Sie haben thematisch in Ihren Veröffentlichungen und Vorträgen ein sehr breites Spektrum beackert: Beruflich stand bis 1976 die Genetik im Mittelpunkt, später beschäftigten Sie sich u.a. mit Evolution, Okkultismus, Philosophie, Psychologie, Musik, Kulturgeschichte und äußerten sich ohnehin zu vielen Fragen der Bibelauslegung. Sie haben es eingangs kurz angedeutet, Sie wollten Generalist sein. Warum? Um Themen und Fragestellungen in den Gesamtkontext einordnen zu können?

Ouweneel: Ja, darum geht es. Zum Teil ist es auch psychologische Veranlagung; dahinter steckt eine gewisse Unruhe. Nach einer Weile verlor ich beispielsweise das Interesse am Thema Evolution, weil ich darüber Hunderte von Vorträgen in allen möglichen Ländern gehalten hatte. Ich wollte auch einmal etwas anderes machen! Seitdem antworte ich auf solche Anfragen: Wendet euch lieber an Spezialisten; ich habe nicht mehr alle Details präsent. Außerdem würde ich heute bei manchen Positionen, die ich damals vertreten habe, etwas vorsichtiger sein.

Ich habe also weniger meine Ansichten geändert, wohl aber immer wieder neue Interessengebiete gefunden. Als 1984 meine beiden Bücher über Psychologie erschienen, kam das den Deutschen auch etwas komisch vor: „Psychologie? Das kennen wir gar nicht von ihm!“ Aber die Bücher erschienen später auch auf Deutsch, und alle, die gut hinschauten, konnten wissen, dass noch viele andere Seiten von mir existierten, die in Holland allgemein bekannt waren, in Deutschland aber nicht wahrgenommen wurden.

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