Interview mit Willem J. Ouweneel (3)Der Reformer, der neu nachdenkt?
Frage: Man kann die Anfangs- oder Endpunkte der „Phasen“, die Sie durchgemacht haben (bzw. die Zeitpunkte, ab denen Sie in Deutschland differenzierter und auch mit bisher eher verborgenen Eigenschaften oder Meinungen wahrgenommen wurden), sicher nicht an konkreten Daten festmachen. Die Veränderung geschah eher prozesshaft. Mitte der 80er Jahre war aber doch offensichtlich eine Zeit, in der Sie verstärkt begonnen haben, über die „Versammlungsgrundsätze“ und -praktiken neu nachzudenken und kritische Fragen zu stellen. 1986 erschien im „Bode“ die Artikelserie „Iets uit de praktijk van het vergaderingsleven“ (in Deutschland als Broschüre unter dem Titel „Aus der Praxis des Versammlungslebens“ veröffentlicht). War das ein entscheidender Wendepunkt?
Ouweneel: In Deutschland hörte sich das wie revolutionäre neue Erkenntnisse an. Das waren kritische Fragen über uns selbst, aber in Holland konnten wir auch solche Fragen, an denen die deutschen Führer so Anstoß nahmen, problemlos aufwerfen. Allein die Tatsache, dass die Artikel im „Bode“ erschienen, zeigt schon, dass ich diese Thematik damals in der Redaktion frei besprechen konnte und dass es überhaupt kein Problem war, das zu veröffentlichen. Das Gleiche gilt für die Artikelserie „Open en gesloten Broeders“ [Offene und geschlossene Brüder], die ich 1992 mit Henk Medema geschrieben habe. Gut, wir haben ein bisschen darüber diskutiert, aber die Artikel wurden doch ohne Probleme im „Bode“ aufgenommen, während sie in Deutschland als Verrat angesehen wurden. Das macht den Unterschied in der Atmosphäre deutlich.
Frage: Aber die in den Artikeln geäußerten Gedanken waren nicht neu für Sie?
Ouweneel: Nein.
Frage: Die Wahrnehmung wurde doch auch dadurch beeinflusst, dass es so schien, als seien die Artikel auf die Situation in Deutschland gemünzt, als seien sie eine Reaktion auf Vorkommnisse in Deutschland.
Ouweneel: Genau, darauf kommen wir jetzt zu sprechen. In Holland haben wir uns längere Zeit regelmäßig (ich glaube, zweimal im Jahr) in Apeldoorn getroffen, um gemeinsam über die Grundsätze des Zusammenkommens nachzudenken. Da waren alle Brüder willkommen, die kommen wollten. Das führte zu regem Interesse, und die Zusammenfassungen der Treffen erschienen auch im Druck. Diese Ergebnisse sind heute noch interessant, weil sie einen Überblick über das geben, was wir damals dachten und veröffentlichten. Wir haben uns also immer mit diesen Themen beschäftigt. In Deutschland wäre das undenkbar gewesen. Da stand alles fest, alles wurde von oben diktiert.
Frage: Kritik und Zweifel wurden als Versuchung wahrgenommen.
Ouweneel: Ja, genau. Bei uns konnte man ganz frei darüber reden, man brauchte auch nicht immer mit allem einverstanden zu sein. Dass man auf den Konferenzen verschiedene Schlussfolgerungen nebeneinander stehen ließ, wenn man nicht zu einer gemeinsamen Sicht kam, das haben die Holländer eingeführt. Dass das in Deutschland nicht möglich war, hängt auch wieder mit diesem Bestreben nach Einheitlichkeit zusammen. In Holland haben wir bei den Wahlen eine große Parteienvielfalt, in Deutschland sind es drei oder vier. Das ist einfach eine andere Mentalität. Ein Autor hielt einmal in München einen Vortrag über die holländische Volksnatur und sagte dabei sinngemäß: „Das Ideal der Holländer ist, dass jeder seine eigene Kirche, seinen eigenen Rundfunk, seine eigene Zeitung und seine eigene Schule hat. Ganz können wir das nicht umsetzen, wir müssen uns mit ein paar Leuten zusammentun, aber bis zu einem gewissen Grad schaffen wir das.“ In Deutschland herrschte eine andere Mentalität. Ein alter Bruder aus Hagen sagte einmal zu mir: „Es ist doch normal, dass die Armee in einem Schritt marschiert!“ Ich sagte: „Lieber Bruder, in der Armee ist das so, aber nicht in der Gemeinde Gottes. Wir sind keine Armee.“
Frage: Das heißt: In den Niederlanden war die Reaktion auf die oben genannten „Bode“-Artikel eher gelassen, weil es nichts Neues war, Dinge zu hinterfragen. 1992 erschien dann aber zunächst nur auf Deutsch die Broschüre „Sektiererei: Ihre Gefahren für die Brüderbewegung“.
Ouweneel: Ja, genau! Das war eine Geschichte für sich. Der Hintergrund war, dass in dieser Zeit bestimmte Spannungen, die schon länger vorhanden waren, offen zutage traten. In Deutschland war Wolfgang B. und in Frankreich ungefähr zur gleichen Zeit Pierre O. ausgeschlossen worden. Die Umstände waren ähnlich: Es handelte sich um rechte Versammlungen, Wolfgang und Pierre waren beide Evangelisten, die mit unüblichen Methoden arbeiteten, und in beiden Fällen folgte ein Ausschluss, bei dem die Versammlungen aber überhaupt nicht einmütig waren, im Gegenteil: Man könnte fast sagen, es war eine Minderheit, die die Entscheidung durchsetzte. Ich habe in beiden Fällen persönlich protestiert, aber das Problem im Fall von Wolfgang B. war, dass es eine deutsche Angelegenheit war. Obwohl es in der Versammlung eigentlich keine Nationalitäten gibt, ist man als Holländer bei deutschen Angelegenheiten doch irgendwie Außenstehender. Dann heißt es einfach „Das ist unsere Sache.“ Als dann aber auch in Österreich Spannungen auftraten, war es etwas anderes: Österreich war nicht Deutschland. Österreich ist für Deutschland und für Holland Ausland. Dort war ein Reihe neuer Versammlungen entstanden; einige Brüder (zum Beispiel Alfred Stücher und Hans-Jochen Timmerbeil aus Deutschland, Henk Medema und ich aus Holland) hatten bereits mit diesen Versammlungen das Brot gebrochen, obwohl sie offiziell nicht mit den „geschlossenen Versammlungen“ in Gemeinschaft waren. Viele besuchten auch die Konferenzen dort. Plötzlich lösten dann die rechten Kräfte die Versammlung in Lofer heraus. Das war eine ganz gemeine Sache. Ich habe später bei den Brüdern die Tränen und die Aufregung gesehen, dass sie darauf hereingefallen waren. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich: Das ist jetzt keine nationale Angelegenheit mehr. Da können wir nicht schweigen. Wenn wir das jetzt so stehen lassen, können wir uns selbst nicht mehr ernst nehmen. Und dann habe ich in dieser Zeit anlässlich der Probleme in Deutschland, Frankreich und Österreich „Sektiererei“ geschrieben. Es erschien zunächst auf Deutsch und fast zur gleichen Zeit auch auf Französisch.
Frage: Nicht auf Holländisch?
Ouweneel: Doch, aber erst später! In Holland interessierte man sich auch dafür, aber das schlug nicht so hohe Wellen (abgesehen von einigen Brüdern, die sich dann später nach der Trennung zu den deutschen „Exklusiven“ hielten). Aber die deutschen Führer waren zutiefst beleidigt. Das war schon immer so. Einige deutsche Brüder hatten schon vor Jahren versucht, Bruder Heijkoop und Bruder Wilts den Zugang zu den deutschen Konferenzen zu verweigern. Wie gesagt: Heijkoop galt in Deutschland als links. Da schwang auch immer eine gewisse Eifersucht mit („dass die Leute aus diesem kleinen Land immer so große Säle füllen ...“). Man hatte teilweise das Gefühl, dass sich die Holländer in deutsche Angelegenheiten mischten.
Frage: Uns liegt ein Brief eines deutschen Bruders an Heijkoop vor (aus den 70er Jahren), der Ihre These ein wenig belegt. Der Absender wirft Heijkoop vor, er habe auf der Konferenz in Hückeswagen keine Zurückhaltung geübt, er habe sie dominiert. Obwohl in seinem eigenen Land „niederdrückende Zustände“ seien, habe er bewusst oder unbewusst einen Keil zwischen alte und junge Brüder getrieben, da er nur Unterredungen mit jungen Brüdern gehabt habe.
Ouweneel: Ja, das ist typisch.
Frage: Ist das (wie etwa auch beim Fußball) einfach eine Animosität zwischen zwei Nationen? Oder lag es am Neid, dass Heijkoop vielleicht besser ankam?
Ouweneel: Nein, das lag nicht am Verhältnis zwischen Deutschland und Holland. Es ging um zwei Typen von Versammlungswesen (die aber natürlich auch wieder durch die Deutschen bzw. die Holländer repräsentiert wurden):
- Auf der einen Seite eine Versammlung, die wie eine Armee in einem Schritt marschiert. Exklusivismus ist nicht möglich ohne Zentralführung. Das ist bis heute noch so. Mit 30 war ich auf einer Konferenz in Deutschland, und Gerhard S. stand auf, um eine Bemerkung zu machen. Da machte Hermann T. nur eine abwinkende Handbewegung, und Gerhard S. setzte sich brav wieder hin. Das hätte es in Holland nie gegeben.
- Auf der anderen Seite eine Versammlung, in der nichts diktiert wird. In Holland nennen wir das das „Polder-Modell“. Das heißt: Wir reden so lange miteinander, bis wir uns einig werden. Und wenn wir uns nicht einig werden, versuchen wir doch, so zurechtzukommen. Mit Nachdenken, nicht mit der Faust.
Frage: Sie führten als Argument für diese Animositäten zwischen deutschen und niederländischen Brüdern aber auch an, dass die Deutschen hier und da auf die jungen holländischen Brüder neidisch waren, die die Bibel besser kannten und größere Säle füllten.
Ouweneel: Ja, natürlich, das war eindeutig. Das war erst bei Heijkoop so und später bei Henk Medema und mir genauso. Natürlich kann man nicht nachweisen, wer die Bibel besser kannte. Zum Teil kamen die deutschen Geschwister einfach auch aus Sensationsgier zu unseren Vorträgen. Aber dafür konnten wir ja nichts.
Frage: Sie sagten vorhin, dass es für die Niederlande keine allzu große Revolution war, als bestimmte (selbst)kritische Gedanken aufkamen. Aber als 1989 „Ihr liefet gut“ von Max Weremchuk erschien und Sie die Veröffentlichung im „Bode“ rezensiert und auch ein wenig systematisiert haben, gab es doch auch Protest. War das in irgendeiner Form ein Wendepunkt, oder würden Sie dieses Ereignis auch in diese kontinuierliche Entwicklung einordnen?
Ouweneel: Protest bedeutet in Holland etwas anderes als in Deutschland. In Deutschland wird Protest mit Revolution gleichgesetzt, denn es bedeutet, dass die Armee nicht mehr im Gleichschritt marschiert. Wir Holländer marschierten schon immer durcheinander. Protestieren hat hier mehr die Bedeutung von „sich austauschen“, manchmal auch scharf, und danach redet man wieder brüderlich weiter. Aber in Deutschland wird Protest als Revolution angesehen.
Frage: Das heißt, Deutsche können nicht verschiedene Meinungen nebeneinander stehen lassen?
Ouweneel: Genau! Da musste so lange gekämpft werden, bis die stärkere Partei (nicht die, die Recht hatte) sich durchgesetzt hatte. Deshalb musste auch immer, wenn ein Führer starb, sofort geklärt werden: Wer ist jetzt der neue Mann? Bei den Raven-Brüdern sieht man das alles noch viel ausgeprägter, aber die „geschlossenen Brüder“ in Deutschland weisen einige Ähnlichkeiten mit den Raven-Brüdern auf.
Frage: Ungefähr ab 1992 legten Ihre öffentlichen Äußerungen deutlich an Schärfe zu.
Ouweneel: Ja, weil in Frankreich und Deutschland und Österreich praktische Dinge vorlagen, zu denen wir uns äußern mussten. 1992 erschien „Sektiererei“, um das aufzudecken, im März 1994 kündigten Christian Briem und Arend Remmers die „Dienstgemeinschaft“ (das war ein neues Wort) mit uns auf. Sie brachten u.a. Brüder aus Frankreich dazu, diese Erklärung zu unterschreiben. Die konnten überhaupt nicht Deutsch lesen, sagten sich aber anscheinend: „Arends und Christians Unterschriften stehen darunter, also wird es schon in Ordnung sein“, und unterschrieben alle brav. Auf diese Weise wurden wir öffentlich persönlich kritisiert.
Frage: In der Broschüre „Sektiererei“ riefen Sie bezogen auf konkrete Ereignisse zur „Umkehr“ auf. 1992 folgten auch die ersten „Gladbecker Gespräche“ zwischen einigen „progressiven“ Brüdern der „geschlossenen Versammlungen“ aus Deutschland und den Niederlanden mit Vertretern der „Freien Brüder“.
Ouweneel: Ja. Wir dachten uns: Wenn die deutschen „geschlossenen Brüder“ so exklusiv sind, könnte es doch sein, dass die „Freien Brüder“ (die wir überhaupt nicht kannten) uns näher stehen. Diese Vermutung hatte zumindest ich schon länger. In dieser Zeit veröffentlichte Arend Remmers eine Broschüre, in der er die „Freien Brüder“ verurteilte. Da dachte ich: So schlimm kann es doch nicht sein; das glaube ich einfach nicht. Ich fragte Hans-Jochen Timmerbeil: „Hast du eigentlich Kontakte zu denen? Kennt ihr die? Was sind das denn für Leute? Sind die wirklich so schlimm? Können wir nicht mal Kontakte mit ihnen aufnehmen?“ Auf der einen Seite verloren wir also zunehmend den Kontakt mit den „exklusiven“ Führern in Deutschland, auf der anderen Seite fragten wir uns, ob uns die „Freien Brüder“ nicht vielleicht viel näher stehen. Das ging alles Hand in Hand. Für mich stand daher schon 1991 fest, dass es zu einer Trennung kommen würde. Dass wir diese Kontakte zu den „Freien Brüdern“ pflegten, hat die Sache natürlich nicht verbessert.
Frage: Was war denn das Ergebnis der Gladbecker Gespräche?
Ouweneel: Das Ergebnis war, dass wir uns gegenseitig kennen lernten. Wir merkten aber schon bald, dass die „Freien Brüder“ in vielerlei Hinsicht genauso exklusiv und konservativ waren wie die „alte Versammlung“. Für die später aufgrund der Trennungen neu entstehenden „blockfreien“ Versammlungen war das also auch keine echte Alternative. Es ging auch nicht um offizielle Versuche, uns zusammenzuschließen, es ging vor allem darum, die „Freien Brüder“ einfach mal kennen zu lernen und uns öffentlich zuzusprechen, dass uns nichts mehr daran hinderte, miteinander Gemeinschaft zu haben. Inzwischen hatten wir in Holland auch unsere Auffassung über die Zulassung zum Abendmahl geändert; das ging mehr in die Richtung, wie es die Brüder zu Beginn der Brüderbewegung gesehen hatten. Diese Auffassung haben wir auch praktiziert, sodass wir die „Freien Brüder“ auch damals schon zum Abendmahl empfangen hätten, wenn sie unsere Versammlungen besucht hätten. Das war kein Problem. Das Zusammenschließen von Blöcken fiel uns schon gar nicht ein.
Frage: Das Ergebnis der Gespräche war also die Erkenntnis, dass die niederländischen „Brüder“ eigentlich den „Freien Brüdern“ näher standen als den „geschlossenen“, mit denen sie bisher verbunden waren, dass die „Freien Brüder“ aber von den Ansichten und Strukturen ähnliche Verkrustungen aufwiesen wie die „Exklusiven“?
Ouweneel: Ja. Ich kann da aber nur für mich selbst sprechen. Es war ja nicht so, dass die 25 „exklusiven Brüder“, die beim ersten Gespräch dabei waren, alle zu einer einheitlichen Schlussfolgerung kamen.
Frage: Die Gladbecker Gespräche waren ja auch nicht primär ein Treffen von Vertretern aus den Niederlanden mit den „Freien Brüdern“ aus Deutschland, sondern es waren zahlreiche deutsche Brüder anwesend.
Ouweneel: Natürlich, es ging in erster Linie nicht um die holländischen Brüder. Henk Medema und ich waren nur als Gäste dazugekommen. Ich war beim ersten Mal auch als Redner eingeladen. Bei der ersten Begegnung in Gladbeck waren zunächst nur 25 von der Seite der „geschlossenen Brüder“ und 25 von der Seite der „Freien Brüder“ da.
Frage: Hatten die „Freien Brüder“ aufgrund der Gladbecker Gespräche vielleicht gedacht, es bestünde eine Chance auf Wiedervereinigung mit den „geschlossenen Brüdern“?
Ouweneel: Nein, dieser Gedanke wäre naiv gewesen. Wir waren ja keine offizielle Delegation der „Exklusiven“. Eine Delegation muss delegiert werden; von wem hätten wir denn delegiert werden sollen? Es gab keine Instanz, die uns hätte delegieren können. Wir hatten weder die Versammlungen noch die führenden Brüder vorher gefragt. Ich möchte aber nicht ausschließen, dass die „Freien Brüder“ damit rechneten, dass einige Geschwister oder Versammlungen, falls die Spannungen innerhalb der „geschlossenen Brüder“ eskalieren sollten, sich ihnen anschließen würden. Dann war es natürlich eine Enttäuschung, als die wenige Jahre später neu entstehenden Versammlungen auch wirklich blockfrei sein wollten.
Das Denken in Blöcken ist eben altmodisches Denken. Deshalb sind die „Freien Brüder“ auch so konservativ: weil auch sie stark in Blöcken denken und weil es auch dort eine starke Führerschaft gibt. Genau wie bei den deutschen „geschlossenen Brüdern“ sind zum Beispiel noch heute alle Kassen zentral geregelt. Das haben wir in Holland schon lange abgeschafft, weil damit viele Gefahren verbunden sind. Das Denken ist bei den „Freien Brüdern“ ein bisschen aufgeschlossener, aber die Struktur ist dieselbe. Wir Holländer sagen uns: „Weil das Deutsche sind! Die ändern sich nicht!“
Ein Problem auf der Seite der „geschlossenen“ Vertreter war, dass einige von ihnen zwar bekannte Brüder waren, aber es war keiner dabei, der in den „offiziellen“ Gremien etwas zu sagen hatte oder eine führende Rolle in Deutschland spielte. An den Gesprächen waren keine Brüder „aus dem Werk des Herrn“ beteiligt.
Frage: Die hätten sich das gar nicht leisten können.
Ouweneel: Nein, aber sie hätten das auch gar nicht gewollt! So wie 1937, als fast alle Brüder in den Bund marschierten, war es hier auch, aber jetzt marschierten fast alle geschlossen in die „exklusive“ Richtung. Wie viele von denen, die während der Spaltungen Ende der 90er Jahre in den Kreisen der „alten Versammlung“ geblieben sind, haben selbständig darüber nachgedacht und eine echte Gewissensentscheidung getroffen? Vielleicht nur 10 %. Die meisten wollten einfach in Ruhe gelassen werden und schön als Brüder zusammenbleiben. Auf der anderen Seite spielten auch bei einigen von denen, die die „geschlossenen“ Versammlungen verließen oder verlassen mussten, fleischliche Gründe eine Rolle; zum Teil folgte man auch hier einfach anderen nach. Da waren auch nicht nur persönliche Überzeugungen ausschlaggebend.
Frage: Im „Nachtbuch“ sprechen Sie von „Papageien irgendwelcher Brüderpioniere“, und in den Gladbecker Gesprächen sagen Sie, dass die Theologie der „Versammlung“ nur von ganz wenigen gemeistert wird und die anderen sie schlucken, ohne sie zu begreifen.
Ouweneel: Ja, das war in Deutschland furchtbar. Walter Briem zum Beispiel sagte einmal auf einer Konferenz: „In 2. Timotheus 2 haben wir es mit der Einheit des Leibes zu tun.“ Es klingt vielleicht ein bisschen überheblich, aber ich wäre fast in Lachen ausgebrochen. Welcher Exeget wäre in 2000 Jahren Kirchengeschichte auf einen solchen Gedanken gekommen? Darauf kommt nur jemand, der die Brüdertheologie ganz und gar „getrunken“ hat. In dieser Äußerung war das gedanklich-theologische System der „Versammlung“ bis in die äußerste Konsequenz gedacht. Ich verstand natürlich, was er damit meinte, aber es stimmte einfach nicht.
Wenn ich die in den Kreisen der „geschlossenen“ Versammlung Gebliebenen in Deutschland fragen würde: „Was bedeutet es denn, sich auf der Grundlage der Einheit der Versammlung Gottes zu versammeln?“, könnte mir kaum keiner eine vernünftige Antwort geben. Die meisten würden sagen: „Das heißt: in Gemeinschaft mit den deutschen Versammlungen.“
Frage: Das heißt: Man kennt Standardformulierungen und Floskeln, man weiß gewisse Schlagwörter, aber den inhaltlichen Zusammenhang versteht man nicht?
Ouweneel: Genau. Was „Einheit des Leibes“ de facto bedeutet, macht eine Aussage des einflussreichsten „geschlossenen Bruders“ in Deutschland deutlich. Er sagte sinngemäß: „Als in Lofer einige Geschwister begannen, sich zu versammeln, war der Herr anfangs in ihrer Mitte. Dann haben sie es aber versäumt, sich der Versammlung in Wien anzuschließen“ (das war die einzige andere „echte“ Versammlung), „und deshalb ist der Herr wieder weggegangen.“ Man muss dabei bedenken, dass die übrigen Christen in Wien die „Versammlung“ überhaupt nicht kannten. Ich habe noch Fritz Aberham gekannt, einen führenden Evangelikalen aus Wien. Als er mir sagte, er kenne in Wien alle bibeltreuen Christen außerhalb des Katholizismus und der etablierten protestantischen Kirche, fragte ich ihn, ob er auch die „Versammlung“ kenne. Davon hatte er noch nie etwas gehört! Aber dieser deutsche Bruder forderte von der Versammlung in Lofer und Umgebung, sich der Versammlung in Wien anzuschließen. Das ist doch verrückt! Aber das ist seiner Meinung nach die „Einheit des Leibes“: Man muss sich der kleinen Versammlung in Wien anschließen, da diese die Einheit des Leibes vertritt. Tut man das nicht, ist man eine Sekte und versammelt sich auf dem Boden der Spaltungen. Das ist so dumm! So fürchterlich dumm! So etwas habe ich auch in meinen schlimmsten Tagen des Exklusivismus nie behauptet.
Frage: Wie erklären Sie sich das, dass durchaus intelligente Leute einen solchen Alleinvertretungsanspruch erheben?
Ouweneel: Das hat nichts mit Intelligenz zu tun, sondern mit Psychologie. Ich habe die betreffenden Personen nicht psychologisch oder psychotherapeutisch analysiert (wenn ich das überhaupt könnte), aber ich habe die Vermutung, dass bei der Trennung fünf Hauptgründe eine Rolle spielten:
- Macht. Es gibt Machtmenschen, die für die Sache des Herrn über Leichen gehen. Als Hermann Thomas krank geworden war und Ernst Arnold sowie weitere bedeutende Brüder gestorben waren, stellte sich die Frage, wer jetzt der „Chef“ war. Ich frage mich übrigens auch, wie heute die Führer der „geschlossenen Brüder“ zusammenarbeiten, ob das überhaupt auf Dauer gut geht.
- Eifersucht. Das haben wir eben schon besprochen.
- Dummheit. Damit meine ich das Unvermögen, Dinge wie die eben genannte Aussage („Wir haben es hier mit der Einheit des Leibes zu tun“) zu reflektieren und zu durchdenken.
- Geld. Wir bekamen Briefe aus Indien und Bhutan und Ländern, von denen man vorher kaum gehört hatte, mit der Aussage, dass sich die dortigen Versammlungen von den fünf Versammlungen in Holland absonderten. Da mag hier und da auch der sanfte Druck dahintergestanden haben, dass sonst der Hahn der deutschen Versammlungen zugegangen wäre.
- Angst. Man zieht sich zurück aus Furcht vor Verunreinigung oder auch nur aus Furcht vor Veränderungen. Angst vor dem Neuen, Angst vor allem, was fremd ist.
Frage: Zum ersten von Ihnen genannten Punkt: Sind Sie nicht auch ein Machtmensch? Sie haben doch auch großen Einfluss und eine Gefolgschaft gehabt.
Ouweneel: Nein, ich bin kein Machtmensch, ich interessiere mich nicht für Führerschaft. Ich bin zum Glück nur ein Studierstubengelehrter. Ich habe wenig Interesse an Macht; ich denke auch nicht darüber nach, ob meine Macht irgendwie bedroht wird. Es hat mir damals vielleicht geschmeichelt, dass ich als junger Mann so große Säle vor mir hatte. Aber das echte Machtdenken nach dem Motto „Ich will die Sache allein im Griff haben“, das habe ich nie gehabt. Ich arbeite zum Beispiel seit 27 Jahren an der Evangelischen Hochschule in Amersfoort mit, aber ich war nie in Positionen der Hochschulleitung. Es hat mich einfach nicht interessiert, ich wollte das nicht im Griff haben. Ich kann auch gut mit anderen Leuten zusammenarbeiten. Also, ich glaube nicht, dass ich ein Machtmensch bin. In Deutschland hat man mich aber zu einem Führer einer Nachfolgerschaft stilisiert. Ich war ein bisschen naiv, aber wenn ich merkte, dass sich jemand bei mir einschmeicheln wollte, hat mich das immer schon sehr gestört. In Holland war das aber sehr selten.
Frage: Andreas Steinmeister schreibt in einem offenen Brief: „... dass du auf diesem Weg viele mitziehst, die wegen deiner an sich gewinnend wirkenden Herzlichkeit, deinem Humor, der manchmal etwas sarkastisch wirkt, und deiner kognitiven Begabung, die wirklich sehr oft überzeugend ist, regelrecht an dich gebunden sind.“
Ouweneel: Das tut mir furchtbar Leid, aber dafür kann ich doch nichts. Ich weiß, dass manche sagen: „Wenn du auf dem Podium stehst, strahlst du eine einmalige Autorität aus.“ Ich kann das selbst gar nicht beurteilen, ich weiß es nicht. Ich bin auch hier ziemlich naiv. Ich spreche jetzt sehr viel vor Jugendlichen; letzten Samstag habe ich vor 1200 jungen Leuten zwischen 15 und 25 gesprochen, das ist ein schwieriges Alter, aber die hören eine Stunde atemlos zu. Jetzt, im Nachhinein, weiß ich, dass ich eine gewisse Macht habe. Aber das ist doch keine absichtsvolle Manipulation.
Frage: Ihr Idealbild eines Christen sieht also ungefähr so aus: Er denkt selbst nach, prüft verschiedene Alternativen, läuft keinem Führer hinterher und lässt sich nicht von Machtmenschen beeinflussen.
Ouweneel: Ja, aber da darf man auch nicht naiv sein: Viele Leute schaffen das nicht allein. Aber wer nicht selbständig entscheiden kann, muss gut aufpassen, auf wen er hört. Bei der Trennung Ende der 90er Jahre war wie bei vielen Trennungen vorher oft das einzige Ziel, dass man am Ort zusammenblieb und möglichst nicht auseinander ging. Ob man dann rechts oder links war, war nicht so entscheidend; Hauptsache, man konnte nächsten Sonntag wieder schön zusammen singen.
Frage: Spielten nicht auch überregionale Aspekte eine Rolle?
Ouweneel: Doch, natürlich, es gab ja die regionalen und überregionalen Konferenzen von führenden Brüdern.
Ich muss ganz ehrlich sagen, ich habe mich in Deutschland weder auf den Konferenzen noch in den örtlichen Versammlungen jemals wirklich wohl gefühlt. Das stimmt wirklich, das ist jetzt kein Nachtreten oder eine psychologische Reaktion. Auf den Konferenzen ritt man ständig auf irgendwelchen Steckenpferden herum. Bei einer Konferenz freute ich mich: „Jetzt haben wir uns schon zweieinhalb Tage ans Thema gehalten, endlich mal.“ Doch am letzten Nachmittag wurde alles verdorben, da wurde dann eineinhalb Stunden darüber geredet, dass wir nur die Brüderliteratur zu lesen bräuchten, und man donnerte zum Beispiel gegen Bücher von Wilder-Smith. Andererseits nutzte man gerne auch Hilfsmittel (zum Beispiel griechische, hebräische Wörterbücher und anderes theologisches Material) von anderen Verlagen. So doof war das alles, so blöd! Auch dass man auf Konferenzen nichts auf Tonband aufnehmen durfte, diese antitechnische Haltung zum Beispiel, die gab es in Holland nicht so. Da hat man schon seit langem alles aufgenommen. Auch in den Versammlungsstunden am Sonntagmorgen war es bei uns eigentlich schon immer frischer und fröhlicher früher natürlich noch nicht so, wie es heute ist, aber doch nie so steif wie in Deutschland. Ich dachte manchmal: Wenn der Herr in Deutschland nur hier bei den „geschlossenen Brüdern“ in der Mitte ist, muss das doch schrecklich langweilig für ihn sein. Es war zwar alles „unter der Leitung des Geistes“, aber es war so voraussagbar. Man fing zum Beispiel immer mit einem Lied an. Es wäre niemandem eingefallen, zu Beginn eine Schriftstelle vorzulesen oder ein Gebet zu sprechen, das hätte Ärger gegeben. Die ganze Liturgie lag so fest, man wusste alles im Vorhinein. Überall wurde genau die gleiche kleine Sammlung von Schriftstellen gelesen. Es war fürchterlich steif und humorlos!
Ich habe die Deutschen unheimlich gerne, immer noch! Aber wenn sie in der Versammlung zusammensaßen, schienen es veränderte Leute zu sein. Man erkannte sie fast nicht mehr wieder. Das ist das Problem. Wenn es um Gastfreundschaft ging, um Freundlichkeit, um Aufnehmen, waren sie den Holländern weit überlegen. Das war einfach gewaltig. Aber sobald sie in die Versammlungen kamen, wurden sie andere Menschen. Als ob sie eine Maske trügen.
Frage: Wie steigerten sich die Auseinandersetzungen dann bis zur Trennung? „Sektiererei“ und andere Schriften wurden sehr kritisch aufgenommen, Sie nahmen die Lage und die Entscheidungen der deutschen Brüder schriftlich aufs Korn. Warum eskalierten die Spannungen?
Ouweneel: Die meisten, auch Hans-Jochen Timmerbeil und Alfred Stücher, der da noch kurz gelebt hat, konnten sich eine Trennung überhaupt nicht vorstellen. Wann hatten die Deutschen denn je abgesehen von den Kriegswirren und ihren Nachwirkungen eine Trennung erlebt? Doch nach „Sektiererei“ waren die führenden Brüder der „geschlossenen“ Versammlungen zutiefst verletzt. Sie wollten die holländischen Störenfriede endgültig heraushaben; es reichte ihnen nicht, dass sie die „Dienstgemeinschaft“ mit ihnen aufgelöst hatten. Für eine Trennung braucht man aber eine Versammlung, die einen entsprechenden Beschluss fasst; dieser Beschluss muss dann von allen anderen Versammlungen anerkannt werden. Und dann bot sich Den Helder an. Die Versammlung Den Helder war das hat man sich damals gar nicht klar gemacht extrem rechts. Den Helder wurde wie ein „harlekijn“ [Hanswurst] benutzt. Nach einigen Briefwechseln und Besuchen deutscher Brüder löste Den Helder 1995 dann tatsächlich die Abendmahlsgemeinschaft mit den fünf Versammlungen Leeuwarden, Sneek, Apeldoorn, Utrecht und Nijverdal auf. Und sofort konnten die Deutschen sagen: „Wegen der Einheit des Leibes müssen wir diesen Beschluss anerkennen.“ Das Anerkennen von Beschlüssen hängt sehr stark mit Zentralismus zusammen. Denn es gibt zwei Arten von Beschlüssen: einerseits Beschlüsse, die man aufgrund der Einheit des Leibes anerkennt, und andererseits Beschlüsse, die man nicht anerkennt, weil sie fleischlich sind. Und die Entscheidung, in welche Kategorie ein Beschluss gehört, wird von einer Instanz, der Führerschaft, gefällt. Das wird offiziell nie so gelehrt, aber in der Praxis gibt es keine andere Methode.
Frage: Bisher wurde doch immer die Lehre aufrechterhalten, dass nur die ganze Versammlung am Ort Beschlüsse fasst. Selbst wenn sich führende Brüder verschiedener Versammlungen gemeinsam beraten, fasst so die offizielle Sicht die örtliche Versammlung die Beschlüsse.
Ouweneel: Ja, genau, das war die offizielle Lehre. Aber selbst wenn eine Versammlung einmütig einen Beschluss fasst, steht damit noch nicht fest, dass die anderen Versammlungen ihn übernehmen. Das tun sie nur, wenn die Führer des Landes dahinterstehen. Wenn diese sagen: „Nein, das ist ganz falsch, das ist aus dem Fleisch, das ist nicht vom Herrn“, würde so lange gedrängelt, bis die betreffende Versammlung entweder den Beschluss zurücknehmen oder ausscheiden würde. Es gab in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg einige Beispiele in Deutschland und in Holland, wo unliebsame Beschlüsse ignoriert wurden. Noch komplizierter wird es, wenn Beschlüsse nicht einmütig gefasst werden. Das war gerade im Zusammenhang mit den Spannungen und Trennungen in den 90er Jahren häufig der Fall. Da entwickelte Christian Briem die Lehre, dass „die Substanz der Versammlungen“ entscheide. Und was ist die Substanz?
Frage: Die Brüderstunde?
Ouweneel: Selbst die nicht unbedingt. „Substanz“ ist auch wieder ein subjektiver Begriff. Das entscheidet der Zentralismus. Also, das System hat nie funktioniert, weil es nicht „wasserdicht“ ist. Denn wer entscheidet, wer die Substanz der Versammlung ist? Es ist auf dem Papier nicht reglementär definierbar. Es ist nur von den Führern definierbar.
Frage: Spielte das 1995 bei der Trennung eine Rolle?
Ouweneel: In Den Helder war die Entscheidung auch nicht einmütig, aber man hat die anderen einfach hinausgeworfen. Die Versammlung in Worbscheid war nicht einmütig, als Wolfgang B. ausgeschlossen wurde. Die Versammlung Marseille war nicht einmütig bei der Entscheidung über Pierre O. Aber das war überhaupt nicht wichtig, entscheidend war ja die Substanz. Es reichte, dass sich die französischen bzw. die deutschen Führer hinter die Entscheidung gestellt hatten.
Den Helder hatte sich also von den fünf Versammlungen getrennt, aber die Deutschen merkten schon recht bald, dass sie auf das falsche Pferd gesetzt hatten. Den Helder war so extrem, dass die Deutschen sich bald bemühten, den Kontakt abzubrechen. Als Den Helder 1998 in einem Brief ankündigte, dass sie nur solche zur Teilnahme am Brotbrechen empfangen würden, die ihre Beschlüsse anerkannten, trennten sich einige „Exklusive“ um Cor Reumerman, Hilvert Wijnholds und Toni Jonathan wieder von Den Helder. Diese Personen passten besser zu den deutschen Führern. Auf der Seite von Den Helder blieben in Deutschland und Frankreich nur ganz wenige, sehr konservative, strenge Leute. Das sind in Europa insgesamt vielleicht ein paar hundert Mann, vielleicht sogar weniger.
Es gibt in Holland inzwischen drei, vier Richtungen innerhalb der Brüderbewegung. Aber die „Substanz“ um dieses Wort zu übernehmen ist die Gruppe um Hilvert Wijnholds, Toni Jonathan usw. Die sind in Gemeinschaft mit den „geschlossenen“ Versammlungen in Deutschland, England, Amerika, Frankreich und anderen Ländern.
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